"Das Soziale bezeichnet kein definierbares Ideal, sondern dient heute nur mehr dazu, die Regeln der freien Gesellschaft, der wir unseren Wohlstand
verdanken, ihres Inhalts zu berauben."
So schreibt der klassische Wirtschaftsliberale Friedrich August von Hayek (1899-1992) in seinem Buch "Wissenschaft und Sozialismus", Tübingen 1979.
Die Tagung diente dazu, sich kritisch auseinandersetzen mit dieser "neoliberal" oder "neoklassisch" oder "neosozial" bezeichneten und dank weltweit einflussreicher Think-Tank-Netzwerke inzwischen hegemonialen Ideologie. In ihrer heutigen, neozialen Ausformung wird Sozialpolitik nicht mehr als das Gemeinwesen versorgende Rückverteilung von oben nach unten mit Rechts- und Sozialversicherungsanprüchen für mehr soziale Gerechtigkeit betrachtet, sondern als Investition in Humankapital, die sich rentieren müsse. Die Profession Soziale Arbeit soll in diesem "neosozialen" Konzept aus "Faulen" und "Passiven" Subjekten eigen- und darüber sozialverantwortliche Subjekte machen, die künftig keiner weiteren Hilfe mehr bedürfen, sondern sich "marktadäquat" (mit Vorliebe im "Niedriglohnbereich") in den Verwertungsprozess der kapitalistischen Produktion, Dienstleistung und familiären Reproduktion "lösungs- und ressourcenorientiert" einbringen. Wer das nicht schafft, soll davon überzeugt sein, dass er/sie selbst an allem Schuld ist und im Prozess von "Welfare zu Workfare" versagt hätte. Die so "versagenden" Menschen würden nach der neosozialen Logik verantwortungslos handeln, wenn sie sich nicht marktadäquat in das Sozialwesen einbringen, um in dieser Gesellschaft gut zu funktionieren und ihr nicht mehr zur Last zu fallen. Die Aktivierungsanforderung (und bei Versagen Sanktionierung) sei zu rechtfertigen, da nur so die Menschen an ihr Glück (Autonomie und Selbstwürde) herangeführt werden könnten. Autonomie und Selbstwürde hätten sie ja angeblich im versorgenden Sozialstaat verloren.
Auf der zeitgleich am 25.02.2015 stattfindenden 10. Armutskonferenz in Salzburg hielt Prof. Klaus Dörre (Uni Jena) einen Vortrag mit dem Titel: "DIE PREKÄRE VOLLERWERBSGESELLSCHAFT. SOZIALE FOLGEN AKTIVIERENDER ARBEITSMARKTPOLITIK". (Hier die Folien zum Download). Dörre beschreibt darin Hartz IV als Herabstufung unter die Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität. Die Rolle der Sozialen Arbeit / bzw. der klassischen Fürsorge sei ambivalent: "Einrichtungen [der Fürsorge], die dafür sorgen, dass ein Leben, das eigentlich unwürdig ist, besser geführt werden kann, haben immer die Tendenz, einen Status zu verewigen, der eigentlich unwürdig ist."
Im fordistisch/ordoliberalen Modell des Nachkriegs-Wohlfahrtstaates mit an den Produktivitätssteigerungen angelehnten Lohnerhöhungen und einem Ausbau sozialer Sicherungssysteme war das noch anders; das Modell geriet aber ab Ende der 1960er Jahre in eine kapitalistische Überakkumulations-Krise, der Kapitalverwertungszwang (sinkende Profitraten) erzwang eine Änderung des keynesianischen Modells . Die "Lohnquote" (incl. der Sozialversicherungsquote) musste runter. Ab Mitte der 1970er Jahren wurde auf die von den Neoklassikern (Hayek, Mises, Popper usw.) seit Ende der 1930er Jahre vorbereitete Ideologie zurückgegriffen. Zur Legitimierung der Abwendung vom Solidarprinzip wurden in geschickter Weise positiv besetzte Begriffe und Anliegen aufgegriffen (z.B. Eigen-=Sozialverantwortlichkeit, Autonomie, Würde, Fleiß, Ausdauer, Bildung, Leistungsgerechtigkeit, Freiheit, Demokratie usw.). Mit diesen begrifflichen Transportbehältern wurde eine spalterische und individualisierende Demagogie legitimiert, die den Interessen der auf Solidarität angewiesenen Lohnabhängigen diametral widersprach. Das funktioniert bis heute und unsere Aufgabe ist es, diese Diskurspiraterie zu entlarven und eine unseren Interessen dienende Rückerinnerung oder Neuschöpfung von Sprache und Begrifflichkeit wieder zu erkämpfen.
Vorweg einige Erläuterungen zum ideologischen und historischen Kontext des "Neoliberalismus":
Das nicht nur von Hardlinern wie Reagan und Thatcher, sondern auch von Präsidenten bzw. Kanzlern wie Clinton, Blair, Schröder, Merkel und Macron in Regierungspolitik umgesetzte "neoliberale" Paradigma war um die Jahrtausendwende in sozialdemokratische und grüne Milieus breit eingesickert. Dieses fortschrittlich anmutende Paradigma operiert(e) mit der Diagnose einer “Unterschichtenmentalität”. Die Menschen wären "faul" und "passiv". Sie würden "saufen", "Unterschichtsfernsehen", "unverantwortlich viele Kinder in die Welt setzen"; sie wären "unfähig, ihre Kinder zu erziehen" ... Seitens eines kosmopolitisch, bürgerlich, liberalen Milieus, deren Fertilität beklagt wurde, sah man/frau abschätzig auf diese "anderen auf der Tasche liegenden" herab, die sich nicht aktiv und nützlich am Gesamtwohl beteiligen würden .
Der Soziologe Ulrich Beck von der renommierten LMU (Ludwig Maximilian Universität in München) verkündete des Ende der Klassenspaltung, es gäbe zwar noch Schichten, aber dazu nun auch einen Fahrstuhl, in den (über Bildung) die aktivierungswilligen und fleißigen Teile der Unterschicht hochfahren könnten. Eine Erfahrung die Zehntausende in der kurzen Ära des Kanzlers Willy Brandt (1969-1974) tatsächlich vorübergehend machen konnten. Diese "Hochgefahrenen" sind der (heute in Rente gehende) Beweis, dass es angeblich nur auf Fleiß und Ausdauer ankäme. Dieses Aufstiegsversprechen hat sich jedoch in Luft aufgelöst. Die Ungerechtigkeit gerade des dreigliedrigen Deutschen Bildungssystems wird international kritisiert.
Angeblich trage der (alte) Sozialstaat eine Mitschuld an der Passivität der Abgehängten, weil er die Menschen von Sozialtransfers abhängig gemacht habe und dadurch ihre "Eigeninitiative", Selbstoptimierung und die "Aktivierung" ihrer Ressourcen verhindert habe. Würden sie aktiver, flexibler und mobiler, wozu notwendigerweise auch die Sanktionsandrohung und -umsetzung gehöre, könnten sie besser "teilhaben" und wieder "integriert" werden (vgl. Prof. Kessl in seinem Vortrag und in seinem Buch: "Erziehung zur Armut? Soziale Arbeit und die "neue Unterschicht", 2007 ). "Responsibilisierung", "Verantwortlich-Machen der Individuen" für gesellschaftlich verursachte Zustände, daraus konstruiert sich die moralische Rechtfertigung für heute immer deutlicher zu beobachtende Bestrafungstendenzen, auch in der Sozialen Arbeit. (vgl. Lutz, Tilman (2017): Wandel der Sozialen Arbeit von der Pathologisierung zur Responsibilisierung, in: Politik der Verhältnisse, Politik des Verhaltens – Widersprüche in der Gestaltung Sozialer Arbeit. Dokumentation des 9. Bundeskongresses Sozialer Arbeit in Darmstadt 2015.)
Tritt die von den kapitalistischen Verwertungsdynamiken verursachte Arbeitslosigkeit (die Ware Arbeitskraft findet keinen Käufer mehr) ein, werden aus vormals Anspruchsberechtigten einer Arbeitslosenversicherung, in die sie jahrelang eingezahlt haben, "Kunden" einer "Arbeitsagentur", Kreditnehmer einer "Humankapital-Investition", die sich ihrer würdig erweisen müssen. Es wird nun explizit erwartet, dass sie ihr - nun nicht mehr von den Verhältnissen herbeigeführtes sondern angeblich selbstverschuldetes - Verhalten ändern, damit sich die "Investition auch rentiert" ("Fördern und Fordern", SPD Kanzler Schröder 2003).
O-Ton Minister Wolgang Clement (SPD) von 2002 bis 2005 Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit
"Deshalb haben wir im Gesetzentwurf vorgesehen, dass junge Leute entsprechende Angebote auch annehmen müssen, also tatsächlich in eine Qualifikationsmaßnahme, Ausbildung oder Ähnliches gehen müssen. Wenn sie sich dem zu entziehen versuchen – was wir ja nicht völlig ausschließen können –, dann kann für sie – darauf müssen wir hinweisen – eine öffentliche Förderung in Gestalt von Geldzuwendungen nicht mehr zur Verfügung stehen. Sie werden dann auf andere Weise unterstützt werden. Der Druck und die Erwartung der Solidargemeinschaft und der gesamten Gesellschaft, dass sie von solchen Möglichkeiten Gebrauch machen, müssen in deutlicher Form klar werden. Darum geht es bei den Gesetzen zur Reform des Arbeitsmarktes, zum Umbau der Bundesanstalt und des Arbeitsmarktes und zum neuen Denken und Handeln am Arbeitsmarkt, im Kern."
O-Ton Peer Steinbrück (SPD) von 2002 bis 2005 Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen und während der 2008er Bankenkrise (Lehman-Pleite) der Bundesfinanzminister, der mit hunderten Milliarden Steuergeldern die reichen/privaten Anteilseigner der verzockten Großbanken vor Verlusten gerettet hat. (zitiert aus ZEIT 2003)
"Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für diejenigen zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun (…) kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die – und nur um sie – muss sich Politik kümmern.“
Nach den ersten drei Gesetzen ab 2003, trat das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) am 01.01.2005 in Kraft. Es begannen die verschärften Zumutbarkeitsregelungen (jede noch so schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen) und die Sanktionen (sogar Totalentzug gegen unter 25-Jährige) und die Abschaffung der zeitlich unbegrenzt gezahlten Arbeitslosenhilfe. Die Folgen waren bezweckt, wie Schröder in Davos stolz verkündete: "Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt."
Ärmere Familien in dieser Gesellschaft wurden zudem mit der verschärften Heranziehung der "Haushaltsgemeinschaft" mittels härterer "Bedürftigkeitsprüfung" und Vermögensanrechnung (Absenkung des "Schonvermögens") in Mithaftung genommen. Die Schrumpfung der Arbeitslosengeld I Bezugsdauer bei gleichzeitiger Anrechnung von Partnerschaftseinkommen bei der Berechnung verschärfte bei arbeitslos gewordenen Ehefrauen zudem alte Abhängigkeitsverhältnisse von ihren „Ernährern“, obwohl sie teilweise vorher jahrelang gearbeitet hatten.
Die Regierung konnte den Konzernbesitzern (in Deutschland: Quandt, Klatten, Porsche, Piech, Reimann, Heister, Otto, Würth, Oetker, Liebherr, Schäffler, Plattner, Hopp, Kühne, Jacobs, Knauf, Rehtmann, Deichman, Springer, Bosch, Thiele, Bauer, Burda usw. ...), besonders aber den aus den USA international operierenden Kapitalsammelstellen wie Black Rock, Vanguard, State Street, Fidelity usw." und der mit "neutralen" Studien und Kommissionen vorbereitend tätigen Bertelsmann-Stiftung (Milliardärsfamilie Mohn) schließlich 2004 den im Bundesrat von SPD/CDU/Grüne/FDP gemeinsam beschlossen Vollzug melden: "mission accomplished".
Die notdürftige Überlebensversorgung der nun deutlich zunehmenden Zahl an gesellschaftlich (als faul und unnütz) verurteilten "undeserving poor" wird seitdem reichen Philanthropen, dem für Firmenwerbung genutzten Fund-Raising, bzw. dem Wirken der Charity-Organisationen und deren ehrenamtlich betriebenen Tafeln und Suppenküchen überlassen.
Nach einer längeren Phase (ca. 1975-1995) der "Pathologisierung" (und entspr. therapeutischen Heilungsbemühungen) der Adressaten Sozialer Arbeit (vgl. Lutz 2017) nehmen nun wieder die in der Sozialen Arbeit altbekannten punitiven (bestrafenden) Aspekte zu. Nicht die Armut - nun sind es die "nicht Aktivierbaren", die "nicht gesellschaftsfähigen" Armen, die bekämpft werden.
Die USA haben die höchste Gefängnisinsassenquote weltweit, meist Schwarze und Latinos. - In der deutschen Jugendhilfe steigen die "Inohutnahmen" und "Fremdplatzierungen" von Kindern drastisch an, es ertönt wieder der Ruf nach nach einer "robusten Jugendhilfe", nach "fakultativ geschlossenen Einrichtungen" für "kriminelle" und "unerreichbare" Jugendlicher, am deutlichsten gefordert z.B. von dem ehem. hessischen CDU Ministerpräsidenten Roland Koch 1999-2010 und von Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen 2015 (SPD) auf dem Höhepunkt der "umF-Flüchtlingswelle". - Vergessen die Reformjahre 1970-80 bis zur Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 1990. Die damalige Bewegung (die sog. "Heimkampagne") gegen die überwiegend kirchlichen "Fürsorge-Höllen", die in einer entlarvenden Kontinuität von der Weimarer Zeit (Foto) über die Nazizeit bis in die 1950-70er Jahre fortexistierten, führte zu ihrer vorübergehenden fast Abschaffung. Doch die Repressivität in der Jugendhilfe kommt wieder, "quasi unter dem Radar selbst der kritischen Fachwissenschaften. Disziplinierungs- und Degradierungstechniken" [werden neuerdings] "nur verfeinert und modernisiert" (vgl. Kunstreich 2018), teilweise aus den Konzepten amerikanischer "Boot-Camps" abgekupfert.
Das neosoziale Paradigma, das die Institutionen, innerhalb derer Sozialarbeiter*innen beruflich agieren müssen, prägt, muss kritisch hinterfragt werden. Der 9. Bundeskongress Sozialer Arbeit in Darmstadt im Herbst 2015 hat sich mit diesem Paradigmenwechsel befasst unter dem Titel: "Politik der Verhältnisse, Politik des Verhaltens – Widersprüche in der Gestaltung Sozialer Arbeit". (In der Dokumentation des 9. Bundeskongresses sind die Beiträge nachzulesen.)
Exkurs zur Geschichte des sog. "Neoliberalismus"
Nach dem großen Börsencrash an der Wall Street 1929 als Folge einer kapitalistischen Überproduktionskrise (und unregulierter Finanzmärkte) und der nachfolgend die ganze Welt erschütternden Finanzkrise war der bisherige Laissez-Faire Wirtschaftliberalismus gründlich diskreditiert. Fordistische, keynesianische, sozialdemokratische und sozialistische Ideen fanden immer breitere Zustimmung, besonders nach den beiden Weltkriegen. Unter liberalen Ökonomen und hinter ihnen stehenden kapitalistischen Eliten verschiedenster Richtungen weltweit setzte aus Sorge um den Erhalt ihrer Privilegien eine Debatte zur Erneuerung liberaler (Wirtschafts)ideen ein.
Ein neuer Liberalismus sollte her. Daraus entwickelten sich nicht "Ein" sondern viele Neoliberalismen, die sich untereinander bis heute streiten (vgl. Walpen 2000).
Die vom US-Imperium nach dem 2. Weltkrieg als weltweit dominierender (Besatzungs)Macht über Marshall-Plan (1947 Paris) und Schuldenerlass (London 1953) geförderte "Soziale Marktwirtschaft" in Deutschland wurde im kalten Krieg als Vorbild und Gegengewicht zum sozialistischen Block gebraucht und nach dessen Zusammenbruch 1989 prompt wieder fallen gelassen. Dabei wurde unter Liberalen theoretisch zurückgegriffen auf die deutschen "ordoliberalen" Vertreter, die einige Schnittmengen zu den sozialdemokratischen Keynesianern hatten.
Alexander Rüstow wurde in den 50er Jahren als Vorsitzender der bis heute existierenden Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (ASM) zu einem zentralen Akteur in Deutschland. Er hatte gute Kontakte zu hohen Repräsentanten der Republik wie den Bundespräsidenten Theodor Heuss, Heinrich Lübke und Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard, der die Aktionsgemeinschaft lange als Ehrenmitglied unterstützt hat. Die ASM pflegte in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten enge Kontakte mit dem Markenverband und der Arbeitsgemeinschaft Selbstständiger Unternehmer (ASU), die sich heute „Die Familienunternehmer“ nennt – also durchaus finanzkräftigen Akteuren.
Die Konrad Adenauer Stiftung beschreibt deren Wirken auf ihrer WEB-Seite folgendermaßen:
"[Alexander Rüstow] wird heute neben Walter Eucken, Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack, Franz Böhm und Ludwig Erhard zu den Gründungsvätern der Sozialen Marktwirtschaft gezählt. [...] In der von Rüstow skizzierten Gesellschaftsform, in der Demokratie und Marktwirtschaft untrennbar miteinander verflochten sind, bestehen unterschiedliche Interessensphären, die er in wirtschaftliche und überwirtschaftliche gliedert. Für die Wirtschaft spricht er von deren dienender Funktion, die nicht mehr als nur die materielle Versorgung des Einzelnen sowie der Gemeinschaft sicherzustellen hat. Grundsätzlich gilt für den Markt der Wettbewerb als Organisationsprinzip. Gleichzeitig aber begrenzen die durch die Ordnungspolitik [vgl. Ordoliberale und Zeitschrift ORDO, d.V.] gesetzten Rahmenbedingungen den Wettbewerb der Wirtschaftssubjekte auf dem Markt und schützen diesen vor Monopolbildung und Wettbewerbsverzerrungen. Die darüber hinausgehenden Lebensbereiche wie Kultur, Erziehung und Familie, Ethik und Religion oder Staat sind für Rüstow von größerer Bedeutung als das Wirtschaften; in diesen Lebensbereichen werde das Verhalten durch moralische Werte gesteuert."
Demgegenüber grenzte sich der aus der ehemaligen K&K Monarchie, dem galizischen Lemberg, stammende wirtschaftsliberale Adlige Ludwig Heinrich Edler von Mises (1881-1973) von der Zuordnung zu den Neoliberalen strikt ab, wie auch sein Schüler Friedrich August von Hayek. Sie wurden von den Ordoliberalen als "Alt- bzw. Paläoliberale" kritisiert. Es gab aber regen Austausch und Diskurs, so z.B. im "Deutschen Verein für Socialpolitik", wo Mises und Hayek eben auch mit Wilhelm Röpke und Walter Eucken zusammenwirkten.
F. A. Hayek promovierte in Wien in Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft 1921-23. Ab 1931 wurde er an die London School of Economics berufen, wo er in den 1930er - 1940er Jahren als Vertreter der Österreichischen Schule und Opponent von John Maynard Keynes galt. Hayek wirkte später auch an der von Milton Friedmann´s Wirtschaftsliberalismus dominierten "Chicago School of Economics".
Mises, Hayek und Friedman inszenierten sich als Apologeten „zivilisatorischer“ Freiheitswerte der westlichen Welt, die nicht etwa durch den Kapitalismus, seinen periodischen Krisen und seiner regelmäßigen autoritär/ diktatorischen (faschistischen) Auswüchse in Gefahr wären, sondern durch "totalitäre und kollektivistische" Systeme (eingeschlossen der Gewerkschaften), die - so unterstellt - aus dem "sozialistischen Lager" hervorgegangen wären (vgl. Hayek 1944 und 1971). Sir Karl Popper (1902-1994, bekanntestes Buch: "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde") war ein weiterer Verfechter dieser antigewerkschaftlichen und antisozialistischen Ideologie. Sie fand Anklang beim Milliardär George Soros (www.opensocietyfoundations.org), aber auch in sozialdemokratischen Milieus, zbei Helmut Schmidt und bis zu grün-liberalen Ex-Maoisten (Ralf Füchs) und taucht heute in Bewegungen gegen "Rechts" - für die "Offene Gesellschaft" wieder wie Phönix aus der Asche auf.
Der US-Amerikaner Walter LIPPMAN (1889-1974) war im 1. Weltkrieg Berater von US-Präsident Woodrow Wilson und 1932–1937 Direktor im Council on Foreign Relations. Er machte besonders mit
seinem Buch "The good society" (1937) weltweit Furore und wurde zu einem der einflussreichsten Journalisten und öffentlichen Intellektuellen der
damaligen Zeit.
"[Er] war der Auffassung, eine moderne Gesellschaft kann nur dadurch funktionieren, dass sie durch
Mittel der Propaganda die ‚Uninformierten‘ in irgendeiner Weise auf Kurs hält. ...Lippmann [war] eigentlich ein Mitbegründer des Konzepts der ‚Elitendemokratie‘ ... Auf Lippmann geht auch die
Idee der Think Tanks, die nannte er Intelligence Bureaus, zurück. Man kann eine Machtsicherung nur bekommen, wenn man den gesamten Bereich der Öffentlichkeit mit einem Sicherheitsnetz von Think
Tanks überzieht, welche die Deutungshoheit im geistigem Bereich haben. - Und Lippmann war auch schon der Vordenker des Neoliberalismus." Er sagte auch: „News and truth are not the same thing, and
must be clearly distinguished.“ (in "Public Opinion" 1922) Nachrichten und Wahrheit haben nichts miteinander zu tun. Das dürfte man heute nicht sagen. Es sagt also, wenn man es etwas pointiert
formuliert: Der Ausdruck Fake News ist eigentlich doppelt-gemoppelt!" (Zitate und Folien aus Vortrag: Prof. Mausfeld 2017)
Gesponsert von einflussreichen Machteliten lud der französische Philosoph Louis Rougier am Institut International de Coopération Intellectuelle im August 1938 zu einem sog. "Colloque Walter Lippmann" in Paris ein. Die auf dem Kolloquium von Alexander Rüstow eingebrachte Begriffsschöpfung "Neoliberalismus" setzte sich (in der Schlusserklärung) gegen Begriffe wie "Neo-Kapitalismus" oder "sozialer Liberalismus" durch. Für Rüstow, Eucken und andere Vertreter des Ordoliberalismus sollte das "neo" vor dem "liberal" verdeutlichen, dass die von Paul Anthony Samuelson (Adam Smith) nur unterstellte "unsichtbare Hand" des Marktes eben nicht "ohne weiteres Formen [schafft] in denen Einzelinteresse und Gesamtinteresse aufeinander abgestimmt werden." (vgl. Wagenknecht, 2011)
Trotz aller Streitigkeiten hatten die verschiedenen Neoliberalismen einige Gemeinsamkeiten:
Zur hegemonialen Durchsetzung dieses neuen (eigentlich alten) Konzepts wurden Think Tanks gegründet und ein langandauernder Kreuzzug um die "Köpfe" ausgerufen. Aus dem Kolloquium in Paris entstand das "Centre International d’ Études pour la Rénovation du Libéralisme" (CIRL). Büros gab es in New York, London und Genf.
Wichtige erste Publikationen waren 1944 Hayeks "Der Weg zur Knechtschaft" und ein Jahr später Karl R. Poppers "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde". Diese beiden Werke sollten im Laufe der Geschichte eine Tiefenwirkung erzielen, die weit in die Sozialdemokratien und Gewerkschaften hinein reicht. (vgl. Walpen 1999)
1947 gründeten eine bunte Schar ausgesuchter Vertreter in der Schweiz in einem Hotel am "Mont Pelerin" die "Mont Pelerin Society" MPS , die bis heute ein weitverzweigtes internationales Elitenetzwerk aufgebaut hat.
Beteiligt u.a.: Friedrich August von Hayek und Antony Fischer, der ab 1950 in London das "Institute of Economic Affairs" gründete, das Margaret Thatcher inspirierte; sowie Milton Friedman von der "Chicagoer Schule", die Ronald Reagan und Augusto Pinochet inspirierte. Mitbegründer waren auch: Frank Knight (Mitbegründer der Chicago School of Economics), Karl Popper, Hayeks Lehrer Ludwig von Mises und George Stigler. Spätere Mont Pelerin Mitglieder waren u.a. auch Ed Crane, Begründer des "Cato Institute", einer der einflussreichsten libertären Think Tanks der USA, sowie Ed Feulner, Gründer der erzkonservativen Washingtoner "Heritage Foundation", der als Präsident der MPS 1997 bei deren Tagung in Barcelona sinnigerweise von der notwendigen katholischen "Reconquista" sprach.
Das "paläoliberale" Mont Pelerin Wohlstands-Versprechen für Alle ("unser Wohlstand") schloss die große Mehrheit der Bevölkerung, wie der Verlauf der realen Geschichte gezeigt hat, nicht mit ein. Der spätere Pinochet-Fan F. A. Hayek, wie auch Antony Fischer und Milton Friedman u.a. meinten mit "uns" wohl eher eine winzige Machtelite, eine Oligarchie. Wohlstand und Freiheit entwickelte sich seit den 1970er Jahren im Wesentlichen für eine superreiche Minderheit.
In den 1960er-Jahren eskalierten die Differenzen innerhalb der Mont Pelerin Society. In der Folge verließen die Ordoliberalen Hunold, Röpke und Rüstow die MPS. Getreu dem Credo “Je weniger Staat, desto besser der Markt”, wandte sich der MPS-Neoliberalismus wieder dem längst vergangen geglaubten Laissez-faire zu. Mit dem Machtwechsel 1982 zu Kohl und Lambsdorff war die Wende auch in Deutschland für die kommenden Jahrzehnte eingeleitet. (vgl. besonders zu den 1960-1980er Jahren: Müller, Sebastian: Der Anbruch des Neoliberalismus. Westdeutschlands wirtschaftspolitischer Wandel in den 1970er-Jahren. Promedia 2016)
Wie Thomas Piketty in seinem Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" nun auch rückblickend auf 150 Jahre statistisch nachweisen konnte, entspricht heute die Spaltung in superreich und mehrheitlich arm wieder in etwa der vor dem 1. Weltkrieg. Was die Vermögen und die unter einer demokratischen Fassade verdeckte Machtverteilung betrifft, ein Rückfall in autoritativ feudalistische Zustände. Der Adlige Ludwig Heinrich Edler von Mises (1881-1973) würde sich sichtlich wohlfühlen in dem ihm wohlvertrauten Milieu.
Der bei immer weniger Finanzoligarchen konzentrierte, gesellschaftlich produzierte Reichtum treibt unreguliert, raffiniert dem staatlichen Steuerzugriff entzogen und hochspekulativ auf den "freien" Welt-Finanzmärkten sein Unwesen und gefährdet, verbunden mit desaströsen neoliberalen Austeritätsprogrammen, den sozialen Zusammenhalt, die Grundlagen unseres Gemeinwesens und unserer erkämpften Sozialsysteme.
"Der Terminus think tank entstand während des Zweiten Weltkriegs in den USA. Er umschrieb einen abhörsicheren Ort (tank), an dem zivile und militärische Experten Invasionspläne schmiedeten und an militärischen Strategien feilten (think)". (Quelle)
Antony Fisher (1915-1988) war neben Milton Friedman (1912-2006) beteiligt an dem von F. A. Hayek (1899-1992) im schweizerischen Mont Pelerin 1947 gegründeten Think Tank, welches heute weltweit operiert.
Der von der schwedischen Reichsbank (nicht von Nobel) ab 1968 gestiftete "Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften" wurde bis heute an acht Mont Pelerin Mitglieder verliehen (Hayek 1974 und Friedman 1976), wobei es sicherlich von Nutzen war, das ein Mont Pelerin Mitglied im Preiskomitee saß.
Fischer gründete 1955 in London das später Margaret Thatchers Politik inspirierende Institute of Economic Affairs und später in den USA 1981 die Atlas Economic Research Foundation zur Förderung neoliberaler Politik mithilfe hunderter global vernetzter neoliberaler Denkfabriken weltweit. Das britische Think Tank "Centre for Policy Studies (CPS)", war eifriges Betätigungsfeld von Margret Thatcher. Alejandro Chafuens, ein in die USA eingebürgerter Argentinier und Erbe des Atlas Network, war maßgeblicher Strippenzieher beim Putsch gegen die gewählte Regierungschefin von Brasilien Dilma Rousseff.
Die ganze Dimension der Ausbreitung dieses Think-Tank-Geflechts in Europa im Gemisch mit Universitäten und Konzernen ist unter diesem LINK nachlesbar: Mont Pelerin Society – Lobbypedia .
Im deutschen Sprachraum arbeitet Atlas Network u.a. mit den folgenden Organisationen zusammen:
Für die Wendung deutscher (Wirtschafts-)Politik hin zum Wirtschaftsliberalismus spielte der vorübergehende (1986 bis 1988) Präsident der Mont Pelerin Society Prof. Dr. Herbert Giersch eine große Rolle. 1948 lernte er bereits an der London School of Economics Friedrich August von Hayek kennen. Ab ca. 1970 verband die Beiden ein langjährige Freundschaft. Von 1960 bis 2007 war Giersch Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie. - Er kritisierte "das „Kartell“ der Tarifparteien und einen lähmenden, weil überbordenden Sozialstaat". ... Als überzeugter Liberaler warb er unverdrossen für offene Märkte, Wettbewerb, Freihandel und weniger staatliche Gängelung und Bevormundung.... Auch international genoss er hohes Ansehen und hatte Gastprofessuren an der Yale-Universität." So weiß die FAZ vom 23.07.2010 zu berichten. Ab 1969 übernahm Giersch die Leitung des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, das er 20 Jahre lang wirtschaftsliberal prägte.
Eine in Deutschland sehr bekannte und im neoliberalen Sinne wirkungsvolle Stiftung ist die Bertelsmann-Stifung - eng verbunden mit einem der größten Medienkonzerne Deutschlands.
Diese Stiftung ist keineswegs eine neutrale Einrichtung zu uneigennützigen Zwecken. Den darin steuernden superreichen Familien, wie die "Mohn"s, geht es um eine "Verringerung der Staatsquote" und – als Mittel dazu – um die Senkung der Steuerlast. „Es ist ein Segen, dass uns das Geld ausgeht. Anders kriegen wir das notwendige Umdenken nicht in Gang“, sagte Reinhard Mohn schon 1996 in einem Stern-Interview. Im Hinblick auf diese Mission ist die Stiftung eine „Macht ohne Mandat“. Sie war maßgeblich mitveranwortlich für die "Bologna-Reformen" an den Hochschulen, letztlich eine Degradierung und Entwissenschaftlichung unter der Regie der "Wirtschaft".
Die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) kaufte so genannte „Themenplacements“ in der ARD-Serie „Marienhof“. Gegen Geld wurden in mehreren Fällen Dialoge entsprechend der neoliberalen Vorstellungen und Forderungen der INSM gestaltet. Gegründet wurde sie von Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie, unterstützt vom Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), eng verbunden ist sie mit dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und dem Institut für Demoskopie Allensbach (IfD). Die INSM hat ihr "journalistisches Sprachrohr" in der Süddeutschen Zeitung gefunden. Die Nachdenkseiten berichten 28. Oktober 2016 über ihr Wirken unter dem Titel "Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft hetzt die Jungen gegen die Alten auf."
Die europäische "Urzelle" (Mont Pelerin Society, MPS) wurde inspiriert und finanziell gesponsert von der ein Jahr zuvor von führenden Vertretern der Finanzelite der USA gegründeten Foundation for Economic Education (FEE). FEE soll nach Ansicht ihrer Fans sowas wie der Großvater aller neoliberalen Denkschulen sein. Auf ihrer WEB-Seite steht: "FEE is constantly focused on providing high school and college students with the inspiration, education and networking they need to become effective advocates for liberty and the free-market system." FEE engagierte sich u.a. gegen den Ausbau staatlicher, sozialer Sicherheit, gegen Sozialversicherungen und Mindestlöhne und propagierte Staatsabbau und die historisch widerlegte Theorie des angeblich auch zu Armen "durchsickernden" ("trickel down") Wohlstands (Pferdeäpfeltheorie) durch Förderung freier, möglichst unbesteuerter (Kapital)Märkte. Suggeriert wurde den Niedriglöhnern eine eigene Schuld am arm sein. Wir erinnern uns an Zeitgenossen wie Schröder mit seiner Aussage: "Es gibt kein Recht auf Faulheit", wie auch Guido Westerwelles Attacke auf Hartz-IV-Empfänger als "spätrömische Dekadenz".
Eine zentrale Rolle im europäischen Kontext spielt auch das "Stockholm Network", das 1997 von der Journalistin und Geschäftsführerin der Social Market Foudation, Ellen Disney, in Schweden gegründet wurde. Ausgehend von einer kleinen Gruppe gleichgesinnter Think Tanks in London und Stockholm wuchs der harte Kern zu einem mächtigen Netzwerk mit 130 Organisationen (Stand 2016) im europäischen Maßstab an. Zu den deutschen Mitgliedern zählen u.a. das Centrum für Europäische Politik (Freiburg im Breisgau), das Committee For A Constructive Tomorrow (Jena), das Council on Public Policy e.V. (Bayreuth), die Friedrich A. von Hayek Gesellschaft (Berlin), die Friedrich A. von Hayek-Stiftung (Freiburg im Breisgau), das Hamburgische WeltWirtschaftsInstitut (HWWI), die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM, Berlin), das Innovation and Valuation in Health Care (Eschborn), die Stiftung Marktwirtschaft (Berlin) und nochmal das Walter-Eucken-Institut (Freiburg im Breisgau). In seiner europaweiten Agenda steuert das Stockholmer Netzwerk derzeit mehrere Kampagnen zur Aushöhlung der Gesundheits- und Wohlfahrtsprogramme mit dem Ziel ihrer schrittweisen Privatisierung.
Hauptspender dieses think-tank-Geflechts sind Multis wie der Pharmagigant Pfizer und Exxon-Mobile, Finaziers des Stockholm Network über die US-amerikanische Heritage Foundation.
Auf dieser Achse sickern Millionen US-Dollar jährlich in die Fonds europäischer Think-Tanks. Shell, British American Tobacco (BAT), eine Schar Konzerne – darunter sogar die Deutsche Bundespost –
gehören auch zu den großzügigen und wirkungsinteressierten Geldgebern, deren tatsächlicher Finanzierungsumfang allerdings jedweder Transparenz widersteht. (Zu
einigen der hier gelisteten Informationen ausführlicher in diesem "Nachdenken"-Artikel vom 11. Sept. 2017.
Rolle der Kirchen
Ein Vorstandsmitglied der Foundation for Economic Education Jasper Crane hat aus machtstrategischen Gründen eine enge Verzahnung mit christlicher Religion und Moral befürwortet: "We are going to be beaten if we rely entirely on the argument of dollars and cents."* - Die evangelische Kirche in Deutschland hat sich vor der Einführung von Hartz IV im Sinne ihrer Arbeitsethik eher wohlwollend verhalten. 2002 wurde der vorbereitende Bericht: „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ im Französischen Dom in Berlin vorgestellt: Der wird von der evangelischen Akademie bewirtschaftet und deren damaliger Akademiepräsident und EKD Ratsmitglied Robert Leicht hatte zur Präsentation vor 500 geladenen Gästen ausdrücklich eingeladen. Er sah eine tiefe Verwandtschaft der Arbeit der Kommission zur protestantischen Arbeitsethik und zu der Aufgabe der Akademie , „der Politik neues Gelände zu roden- vor allem dort wo sie sich im Unterholz der Interessen und Besitzstände ratlos, manchmal sogar rastlos und restlos festgefahren hat.“ Warum sagte der in seinem anderen Berufsleben wirtschaftsliberal profilierte Zeit-Journalist Robert Leicht nicht gleich: „im Unterholz des sozialen Rechtsstaates und des kollektiven Arbeitsrechts festgefahren“ ? Wo er doch 2004 bedauerte, dass Hartz IV nur den direkten Druck auf die Arbeitslosen aber nicht auch auf die Tarifpartner bewirke.
* Lichtman, Allan J. (2008). White Protestant Nation: The Rise of the American Conservative Movement. Grove Press. p. 160.)
Der kath. Kardinal Joseph Höffner 1957: "Angesichts des einhelligen Eintretens der westlichen Welt für die Idee des Privateigentums – hier stimmen Neoliberalismus, Neosozialismus, evangelische und katholische Soziallehre im wesentlichen überein – drängt sich die Frage auf, wie es in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit um das Privateigentum und seine Funktionen bestellt sei."
Milton Friedman, Professor an der University of Chicago von 1946-1976, war Mitbegründer und von 1970-72 Präsident der Mont Pelerin Society. Er war ein großer Widersacher der Nachfragepolitik des englischen Ökonomen John Maynard Keynes und des US-Ökonomen John Kenneth Galbraith. Friedman engagierte sich aktiv in der erfolgreichen Präsidentschaftskampagne (1968) von Richard Nixon und wurde später (ab 1981) Mitglied in Präsident Ronald Reagan's Economic Policy Advisory Board.
Milton Friedman war Mentor einer Gruppe von eigens mit Stipendien an der Chicagoer Schule ausgebildeten chilenischen Ökonomen, den sog. "Chicago Boys". Es startete 1956 im Rahmen eines Austauschprogramms mit den USA. Von 1957 bis 1970 erwarben 100 StudentInnen einen Abschluss in Chicago. Zentrale Figur dabei war Arnold Harberger, verheiratet mit einer Chilenin und Wirtschaftsprofessor an der Universität Chicago. 1965 wurde das Programm – finanziert u.a. durch den Vorläufer von USAID, die staatliche Entwicklungshilfeorganisation International Cooperation Administration, und die private Ford-Stiftung – auf weitere Länder in Lateinamerika ausgedehnt. Die Kooperation begann schließlich mit der willigen Universidad Católica de Chile. 1963 waren bereits zwölf der 13 Vollzeitfakultätsmitglieder an der katholischen Universität Absolventen der Universität von Chicago.
Nach dem von der CIA gesteuerten Putsch in Chile (1973), dem gewaltsamen Sturz des gewählten Präsidenten Allende und der nachfolgenden Militär-Diktatur Pinochets kam es vorüergehend (noch von den Christdemokraten mitgetragen) zu einem wirtschaftlichen Abschwung mit 300 % Inflation. Die Gewerkschaften wurden zerschlagen. Widerständige landeten zu Zehntausenden in Konzentrationlagern, die soziale und linke Opposition wurde politisch und physisch ausgeschaltet. (Vgl. Stützle 2013)
Die Tatsache, dass eine Militär-Diktatur eine liberale Marktwirtschaft einführte, bezeichnete Friedman später als „Wunder von Chile“. Ab März 1975 sahen nämlich die "Chicago-Boys" das Feld bereitet für ihre monetaristisch-neoliberale Schocktherapie (vgl. Naomi Klein), die orwellsche Wortschöpfung dafür: »Stabilisierungsprogramm«. Unter »Superminister« Jorges Causas wurden Teile der Chicago Boys zu Ministern oder Staatssekretären ernannt (Sergio de Castro, Pablo Baraona, Alvaro Bardón, Rolf Luders, Miguel Kast); weniger bekannte Vertreter bekamen Verantwortung in der Zentralbank oder kamen in wichtigen Unternehmen unter. 500 Betriebe wurden privatisiert. Die Einfuhrzölle wurden Schritt für Schritt von 92 auf zehn Prozent gesenkt. Der Finanzmarkt wurde dereguliert, Preiskontrollen aufgehoben und Löhne gedeckelt, ein Großteil der Lohnabhängigen landete in kürzester Zeit in Armut. Die Hälfte der Staatsausgaben wurde zusammengestrichen. Eine zentrale Figur war José Piñera. Zentrale Felder waren die Arbeitspolitik, soziale Sicherheit, Erziehung, Gesundheit, regionale Dezentralisierung, Landwirtschaft und Justiz. Vor allem die Privatisierung der Rente gilt als neoliberale »Pionierleistung«. (Vgl. Stützle 2013)
DIKTATORENFREUND Friedrich August von Hayek haderte mit der Demokratie und empfahl den "parlamentarische[n] Gesetzgeber stärker von gesellschaftlichen Einflussnahmen [zu] entkoppel[n]", um dem Kapitalismus freie Bahn zu lassen, wie in diesem Zeit Artikel vom 25.09.2014 näher ausgeführt. - Als Fan und Förderer der Wirtschaftspolitik des chilenischen Diktators Augusto Pinochet, besuchte er das Land mehrmals, ließ sich dort feiern und outete sich in diesem Interview folgendermaßen: „Ich persönlich würde einen liberalen Diktator gegenüber einer demokratischen Regierung, der es an Liberalismus mangelt, bevorzugen.“ („Extracts from an Interview with Friedrich von Hayek/ El Mercurio, Santiago de Chile, 12.04.1981“ – Punto de Vista Económico, 21.12.2016).
Heiner Flassbeck ist ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler; er war von 1998 bis 1999 Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen und von 2003 bis 2012 Chef-Volkswirt bei der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD) in Genf. Video eines Vortrages und Diskussion mit dem Titel: "Kapitalismus am Ende ? Konsequenzen der neoliberalen Weltordnung" an der Hochschule Regensburg am 02.12.2015.
"Kritik des Neoliberalismus", Christoph Butterwegge, Bettina Lösch, Ralf Ptak, Wiesbaden 2008
Zu der Rolle von Stiftungen und Denkfabriken in Deutschland schrieb Uwe Krüger (Journalistik und Politikwissenschaft) das empfehlenswerte Buch "Meinungsmacht. Der
Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten - eine kritische Netzwerkanalyse", Verlag Halem 2013.
Patrick Schreiner setzt sich in seinem 2015 erschienen Buch "Unterwerfung als Freiheit, Leben im Neoliberalismus" (Köln, PapyRossa) damit
auseinander, wie und weshalb der Neoliberalismus das ganze Sein und Denken der Individuen vereinnahmt und welche Folgen das für den Einzelnen wie für die Gesellschaft hat. Neoliberalismus ist
eine Ideologie, die Freiheit verspricht, aber Elend und Unterwerfung bedeutet. "Patrick Schreiner spannt dabei den Bogen von der Ratgeberliteratur über die
Esoterik-Bewegung, den Leistungssport, Castingshows und die Pseudo-Glitzerwelt der echten und vermeintlichen Prominenz. Fündig wird er auch in den sozialen Netzwerken und bei der Betrachtung von
über Werbung und Medien transportierten Konsum- und Lifestylemustern. In all diesen Bereichen lassen sich nicht nur die Kernelemente neoliberalen Denkens aufdecken, sondern auch die Mechanismen,
wie dem Menschen neoliberales Denken eingetrichtert wird. Überall entdeckt Schreiner versteckt oder ganz offen die immergleichen Anforderungen: Sei flexibel! Diszipliniere dich! Handele
wie ein Unternehmen! Schau auf dich selbst! Es sind diese Imperative, die die Menschen, so sie willig bereit sind ihnen zu folgen, zu einer permanenten Selbstthematisierung,
Selbstoptimierung und Selbstdarstellung anhalten." (Quelle der Buchrezension: Attac)
In diesem Interview mit dem Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Rainer Mausfeld antwortet er auf die Frage, wie den Menschen mittels geeigneter Psychotechniken der Geist vernebelt wird, um Widerstand gegen neoliberale Ideologie weitestgehend unmöglich zu machen. Der Neoliberalismus mache nicht nur den Armen und Schwachen weis, sie wären an ihrem Elend selbst schuld. Er schaffe es auch, dafür zu sorgen, dass das wahre Ausmaß der gesellschaftlichen Armut kaum je an die Öffentlichkeit dringe und das Gesundheitssystem trotz immer höherer Ausgaben immer inhumaner werde; dass mittels Stiftungen ein regelrechter „Refeudalisierungsboom“ im Lande tobe und Investoren inzwischen auf die Privatisierung des öffentlichen Bildungssystems abzielten.
Galbraith, John Kenneth; 2005. Sein Buch: "Der große Crash 1929. Ursache, Verlauf, Folgen" Finanzbuchverlag, München . Galbraith (1908 - 2006) war ein kanadisch-US-amerikanischer Ökonom, Sozialkritiker, Präsidentenberater, Romancier und Diplomat. Galbraith war einer der einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, als Keynesianer und Linksliberaler setzte er sich zeitlebens für eine Stärkung der staatlichen Institutionen und für eine Förderung der Nachfrage ein.
Le Monde diplomatique brachte am 13.08.2015 unter dem Titel: "Schäubles Gehäuse, Geschichte und Wirkmacht der ordoliberalen Denkschule" eine sehr interessante Auseinandersetzung mit verschiedenen liberalen Strömungen; u.a. die von den Besatzungsmächten ermöglichten und im kalten Krieg als Vorbild gegenüber dem sozialistischen Block propagierte westdeutsche (konservative) Sozial- und Wirtschaftspolitik von Ludwig Erhard und deren theoretische Wurzeln bei den sog. "Ordoliberalen" der "Freiburger Schule", in Abgrenzung zu den oben erwähnten sog. "Laissez-faire"-Liberalen um Hayek und Friedman.
Die Politikerin Sahra Wagenknecht (Die Linke) setzt sich in ihrem 2011/2012 erschienen Buch "Freiheit statt Kapitalismus: Über vergessene Ideale, die Eurokrise und unsere Zukunft" auch mit dem Ordoliberalismus der Nachkriegszeit im Gegensatz zu den heutigen sog. "Neoliberalen" auseinander. In ihrem 2016 erschienenen Buch "Reichtum ohne Gier - Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten" geht sie im ersten Teil ausführlich auf die "Lebenslügen des Kapitalismus" ein. Nicht etwa Leistung, Eigenverantwortung und Wettbewerb würde der hochentwickelte Kapitalismus hervorbringen, sondern Oligopole, Machtkonzentration und gekaufte Politik. Auf Seite 116 schreibt sie:
"Milton Friedman, der Kopf der Chicagoer Schule und einer der wichtigsten Theoretiker des Neoliberalismus, beschreibt den Kapitalismus so, wie ihn viele noch heute sehen: Er stehe für das
»Modell einer Gesellschaft, die durch das Mittel des freiwilligen Austausches organisiert wird«." Dass der Kapitalismus Wohlstand erzeuge, sei allein »Folge der Initiative und des
Unternehmungsgeistes von Einzelnen«. Staatliche Maßnahmen hätten diese Entwicklung immer nur behindert. Milton Friedman ist ein frühes Beispiel für jenen Realitätsverlust, an dem große
Teile der ökonomischen Zunft bis heute leiden. (Hervorhebung d.V.)
Ganz im Gegensatz zum beliebten Kontrastieren von Markt und Staat bediente sich der Kapitalismus von Beginn an staatlicher Machtmittel. Er wäre ohne aktive Eingriffe des Staates nie entstanden und hätte sich ohne dessen tatkräftige Unterstützung nicht entwickeln können. »Der Kapitalismus triumphierte nur dann, wenn er mit dem Staat identifiziert wurde, wenn er der Staat war« schreibt der französische Wirtschaftshistoriker Fernand Braudel. Er verweist darauf, dass schon die frühkapitalistischen Kaufleute »Freunde der Fürsten und Nutznießer des Staates« waren und auch darauf ihre Überlegenheit gegenüber anderen, weniger privilegierten Marktteilnehmern beruhte.
An dieser engen Verbindung von großen Unternehmen und staatlicher Macht hat sich bis heute nichts geändert. Tatsächlich besteht der Unterschied zwischen reichen und armen Ländern weit weniger darin, dass die einen erfindungsreichere Unternehmer oder fleißigere Arbeiter haben als die anderen, sondern vor allem darin, dass die einen über funktionierende Staaten verfügen, die bereitstellen können, was eine kapitalistische Wirtschaft für Wachstum und hohe Gewinne braucht, während schwache Staaten dazu nicht in der Lage sind. Das betrifft zum einen staatliche Leistungen auf nationaler Ebene - von Bildung und Forschung über Infrastruktur bis zur Rechtssicherheit. Mindestens ebenso wichtig ist aber der staatliche Einsatz auf internationalem Parkett, um Rohstoffe und Absatzmärkte mit Geld, Diplomatie und im Notfall auch mit militärischen Mitteln zu kämpfen."
Die wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse des (konservativen) Engländers John Maynard Keynes (1883 – 1946) prägte die Anti-Depression/New Deal Politik des amerikanischen Präsidenten Roosevelt vor dem 2. Weltkrieg und brachte entscheidende Impulse für die "Bretton Woods Konferenz" 1944 zur Neuordnung des Weltwährungssystems ein. Auf der Internetpräsenz der Keynes-Gesellschaft gewürdigt. - "John Maynard Keynes stellte [auf der Bretton Woods Konferenz] als Leiter der britischen Delegation seinen von ihm selbst entwickelten Plan zur Schaffung einer „International Clearing Union“ (ICU) vor. Dieser Plan sah vor, dass die Mitgliedsländer der ICU ihre Handelsbeziehungen mit Hilfe einer supranationalen Verrechnungseinheit „Bancor“ gegenseitig verrechnen, wobei alle Mitgliedsländer – nicht nur Defizit-, sondern auch Überschuss - einem gleichen Druck ausgesetzt sein sollten, ihre Leistungsbilanzen ins Gleichgewicht zu bringen. Anstelle von Keynes’ Bancor-Plan wurde auf der Konferenz von Bretton Woods der US-amerikanische White-Plan angenommen, demzufolge der US-Dollar zur internationalen Leitwährung wurde. Das Institutionengefüge aus IWF, Weltbank und GATT/WTO wurde zum Symbol der ökonomischen Überlegenheit des industrialisierten Nordens gegenüber der sogenannten Dritten Welt." (zitiert aus Lobbypedia)
Hier ein Video (in English) eines weiteren Kritikers: James Galbraith auf der IG-Metall Konferenz am 7. Dezember 2012 über die Fehler der europäischen Austeritätspolitik. (James ist der Sohn von John Kenneth Galbraith, s.o.)
Das DGB-Bildungswerk setzte sich 2003 in einer Broschüre mit der Demokratie gefährdenden Rolle der neoliberales Gedankengut verbreitenden Bertelsmann-Stiftung (dahinter die Milliardärsfamilie Mohn) auseinander.
Der Bremer (emer.) Prof. Rudolph Bauer setzt sich in dieser Broschüre "WIR BEFINDEN UNS MITTEN IM KRIEG - Militarisierung im Digitalen Zeitalter" mit der Rolle der Bertelsmann-Stiftung und der durch sie gesponserten "Venusberg-Gruppe" auseinander.
Sebastian Müller hat sich mit dem "Anbruch des Neoliberalismus" und dem Ende der keynesianischen Wirtschaftspolitik in den 1970er Jahren intensiv beschäftigt. Er studierte Geschichte, Politikwissenschaft sowie Germanistik an der TU Darmstadt und setzt sich als freier Journalist und Autor insbesondere mit den Wechselwirkungen von Ökonomie und Gesellschaft auseinander. Sein Buch “Der Anbruch des Neoliberalismus” ist im Promedia Verlag erschienen.