Die nun aus Bremen kommende Opferentschädigungsinitiative sollte eine Vorlage für Initiativen anderer Bundesländer sein, mit dem Ziel der Schaffung A. eines Fonds für die Betroffenen und B. (besser noch) der Berücksichtigung der berechtigten Opferinteressen auch in der sog. „Schutzlücke“ der Jahre 1975 bis 2023 im neuen Sozialgesetzbuch (SGB) XIV, das ab 2024 gelten soll.
Kaija Kutter hat in ihrem Beitrag in der TAZ vom 12.10.2022 Bezug genommen auf den Dringlichkeitsantrag der CDU vom 11.10.2022 und die unmittelbare Reaktion des Bremer Senats (SPD/Grüne PdL) mit einem eigenen Dringlichkeitsantrag. Wir befinden uns bereits im Vorwahlkampf zur Bremischen Bürgerschaft (Wahltermin Mai 2023).
TAZ: “Der Bremer Senat solle nun nicht nur eine externe Studie in Auftrag geben, um die konkreten Umstände und Folgen der Unterbringung in Haasenburg und Friesenhof weiter aufzuarbeiten. Im Gespräch dafür ist eine Kulturwissenschaftlerin, die bereits zur Heimerziehung in der NS-Zeit forschte. Der Senat soll sich auch auf der Jugendministerkonferenz dafür stark machen, besagte „Schutzlücke“ zu schließen …”.
Die gerade mal sechs Monate alte Mitteilung des Bremer Senats vom 26. April 2022 sah demgegenüber lediglich eine “Bewertung und kritische Aufarbeitung der Maßnahmen in geschlossenen Jugendhilfeeinrichtungen” vor. Die CDU kommentierte das folgendermaßen:
“…hier schiebt der Senat die Verantwortung bis heute weit von sich. Aktuelle Fragen nach erlebtem Leid in den Einzelfällen und nach Langzeitschäden bei den Betroffenen beantwortet der Senat mit Nichtwissen. Es lägen kaum Kenntnisse darüber vor und offensichtlich ist man nicht bemüht, diese zu erlangen und auf die heute Erwachsenen demütig zuzugehen. Alle bisher vorliegenden Erkenntnisse speisen sich aus Untersuchungsberichten, die eben nicht von Bremen initiiert und durchgeführt wurden. Noch nicht einmal sind Aussagen von oder zu Kindern und Jugendlichen aus Bremen in den Berichten enthalten, wie wir aus der Drucksache 20/1436 erfahren.”
Noch ungeklärt bleibt leider weiterhin, wie denn nun vermieden werden soll, dass aktuell und zukünftig überhaupt solches Leid innerhalb des Kinder- und Jugendhilfesystems entstehen kann.
CDU:
“Allein im Jahr 2021 wurden an den Familiengerichten des Landes 152 Anträge auf geschlossene Unterbringung gestellt; aktuell müssen nahezu 957 Bremer Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen abseits familiärer Bindung leben. Über die Lebensumstände dieser Minderjährigen und Schutzbefohlenen liegen uns nur sehr wenige Erkenntnisse vor. Einzelfälle von Kindeswohlgefährdung ließen auch in den vergangenen Jahren immer wieder aufhorchen. Hier braucht es auch gegenwärtig mehr gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit, mehr Transparenz über die Lebensumstände hinter Heimtüren.”
Psychische und körperliche Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen in früherer Heimunterbringung – Forderung nach Aufarbeitung und Lehren, Entschuldigung und Entschädigung
durch das Land Bremen. (Dringlichkeitsantrag der Fraktion der CDU. B R E M I S C H E B Ü R G E R S C H A F T Drucksache 20/1626, Land 20. Wahlperiode 11. Oktober 2022, siehe pdf zum
Download unten)
Das Leid von 16 Bremer Kindern und Jugendlichen, welches ihnen während der Jahre 2008-2015 in den Haasenburg- und Friesenhof-Heimen zugefügt wurde, ist unermesslich und verbunden mit lebenslangen
persönlichen Traumata. Verantwortung für die Einweisung in solche Unterkünfte, in denen Minderjährige schutzlos der Willkür und psychischer wie körperlicher Gewalt ausgesetzt waren, trägt auch
die Bremische Kinder- und Jugendhilfe. Bis heute sind die Übergriffe in den Heimen nicht vollständig aufgeklärt, insbesondere nicht für die Opfer aus Bremen. Bis heute haben der Senat und das
Landesjugendamt damaliges Leid und Missstände nicht anerkannt, ihre Schuld und Mitverantwortung nicht eingeräumt und sich nicht bei den heute erwachsenen Menschen entschuldigt. Das Land
Brandenburg ist hier schon wesentlich weiter. Dort wurde durch die Landesregierung zur Aufarbeitung der Vergangenheit in den Heimen eine hochkarätige Expertenkommission eingesetzt und bereits vor
acht Jahren entschuldigte sich dort die Bildungsministerin ausdrücklich bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen von einst.
Nicht so in Bremen - hier schiebt der Senat die Verantwortung bis heute weit von sich. Aktuelle Fragen nach erlebtem Leid in den Einzelfällen und nach Langzeitschäden bei den Betroffenen
beantwortet der Senat mit Nichtwissen. Es lägen kaum Kenntnisse darüber vor und offensichtlich ist man nicht bemüht, diese zu erlangen und auf die heute Erwachsenen demütig zuzugehen. Alle bisher
vorliegenden Erkenntnisse speisen sich aus Untersuchungsberichten, die eben nicht von Bremen initiiert und durchgeführt wurden. Noch nicht einmal sind Aussagen von oder zu Kindern und
Jugendlichen aus Bremen in den Berichten enthalten, wie wir aus der Drucksache 20/1436 erfahren.
Weiterlesen in der pdf zum Download unten ...
Erfahrenes Leid anerkennen – Solidarität mit den geschädigten früheren Heimkindern
BREMISCHE BÜRGERSCHAFT Land 20. Wahlperiode 11. Oktober 2022, Dringlichkeitsantrag der Fraktionen DIE LINKE, der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Am 4. März 2022 fand die Fachtagung zu Konflikten um Heimerziehung und Einschluss heute im Anna-Siemsen-Hörsaal der Fakultät Erziehungswissenschaft in Hamburg statt, zu der der Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Hamburg, das Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung sowie der Arbeitsbereich Sozialpädagogik der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg eingeladen hatten.
Das Interesse der Fachöffentlichkeit sowie Studierender und Mitglieder verschiedener Hochschulen aus Hamburg sowie dem Bundesgebiet war groß: ca. 150 Personen aus unterschiedlichen Bereichen der Jugendhilfe, nicht nur aus Hamburg, nahmen teil.
Unter diesem LINK ist ein ausführlicher Bericht von der Tagung "Konflikte um Heimerziehung und Einschluss heute" am 4. März 2022 aufrufbar:
Fachforum: Aktionsbündnisse gegen Freiheitsentzug und geschlossene Unterbringung: Entwicklungen und Einsprüche aus der Jugendhilfe, am 18. Mai 2021 · 14:00 - 15:30 Uhr
Im Fachforum diskutiert das 2020 gegründete bundesweite Netzwerk lokaler Aktionsbündnisse die fachpolitischen Entwicklungen zum Aufbau neuer freiheitsentziehender Einrichtungen in der Jugendhilfe
und stellt zentrale fachliche Einsprüche vor.
Mehr Infos: https://www.jugendhilfetag.de/veranstaltungen/event/aktionsbuendnisse-gegen-freiheitsentzug-und-geschlossene-unterbringung-entwicklungen-und-einsprueche-aus-der-jugendhilfe
Anmeldung: https://www.jugendhilfetag.de/fachmesse/allgemeine-teilnahmebedingungen
Eine Präzisierung der Fragen und Erläuterung der dazugehörigen Anlässe findet sich in dieser pdf zum Download :
Prof. Dr. Nicole Rosenbauer hat für das Bundesweite Aktionsbündnis gegen Freiheitsentzug und geschlossene Unterbringung am 16.12.2020 in der öffentlichen Anhörung der Kinderkommission (KiKo) des Deutschen Bundestags Stellung beziehen können.
Unter diesem LINK findet einen Text und eine Aufzeichnung/ein Video der Sitzung:
https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw51-pa-kiko-806478
„Freiheitsentziehende Unterbringung abschaffen“
“Um das Hilfe-System für Kinder und Jugendliche zu verbessern, die nicht bei ihren Eltern wohnen können, brauche es in der Heimbetreuung mehr und besser qualifiziertes Personal, sagte Prof. Dr. Nicole Rosenbauer vom Bundesweiten Aktionsbündnis gegen Freiheitsentzug und geschlossene Unterbringung. Man verfüge in der Sozialpädagogik mittlerweile über ein ausgereiftes fachliches Instrumentarium, um zu einem differenzierten Fallverständnis zu kommen und Kindern die für sie passende Hilfe zukommen zu lassen.
Rosenbauer unterstrich außerdem die Forderung des Aktionsbündnisses nach einer Abschaffung der freiheitsentziehenden Unterbringung. Die Kinder würden dort entwürdigende und angstauslösende Maßnahmen erfahren und über ihre Aufenthaltsdauer im Heim hinaus unter den Spätfolgen leiden. Außerdem: Geschlossene Systeme seien anfällig für Machtmissbrauch. Die freiheitsentziehende Unterbringung sei „ein Irrweg“, lasse sich nicht humanisieren oder reformieren, sondern nur abschaffen. Das Versorgungssystem biete viele andere Möglichkeiten, Kinder und Jugendliche in offenen Strukturen, in Freiheit, zu betreuen und zu versorgen.”
Geschlossene Heime verschärfen die Probleme, die sie lösen sollen. Sie sind Symbol für eine Politik der Härte gegenüber schwierigen Jugendlichen. Das “Bundesweite Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung” streitet für eine humane Erziehung, die ohne Freiheitsentzug auskommt.
Referent Prof. Dr. Friedhelm Peters (FH Erfurt) im Januar 2021: Der Rückblick auf die Entwicklung geschlossener Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe und der sie begründenden Diskurse zeigt, dass Geschlossene Unterbringung (GU) dysfunktional ist bezogen auf die (Weiter-)Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Außerdem verstößt sie gegen die UN-Kinderrechtskonvention/Kinderrechte. Es gibt Alternativen und gute Gründe, GU (endlich) abzuschaffen, auch wenn der disziplinäre (und politische) Streit um sog. „Systemsprenger*innen“ noch anhält.
Die Sozialbehörde gibt nicht mehr bekannt, wie viele Jugendliche außerhalb der Stadt in geschlossen Heimen untergebracht sind. Auf eine Große Anfrage der Linken-Politikerinnen Sabine Boeddinghaus und Insa Tietjen gab sie nur Misch-Zahlen preis.
So gab es in den ersten fünf Monaten des Jahres 79 Verfahren über „freiheitsentziehende Unterbringung“ nach dem Paragrafen 1631b des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). In der Regel betreffe dies die „Unterbringung in der Psychiatrie“. Gefragt, wie viele Verfahren die Jugendhilfe beträfen, erklärt die Behörde neuerdings: Das werde nicht erfasst.
(…) Den vollständigen Artikel in der TAZ gibt es unter diesem LINK.
Für die Hamburgische Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V. legte am 29.07.2020 Charlotte Köttgen, ehemalige Sprecherin des Ausschusses Kinder und Jugendliche der DGSP (Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.) die nachfolgende Stellungnahme vor (unten als pdf-Download).
Darin heißt es in den Schlussworten:
"Die dort [im Hamburgischen Koalitionsvertrag] verfolgten „intensivpädagogischen“ Konzepte erwiesen sich bei genauem Hinsehen häufig als Methoden, die an Zeiten schwarzer Pädagogik erinnern und einige der davon Betroffenen schwer retraumatisierten.
Im Koalitions-Vertrag heißt es dazu: „Wir wollen die Rahmenbedingungen von Psychiatrie und Jugendhilfe weiter verbessern...“
Unterstützenswert sind – wie Belege aus der Vergangenheit gezeigt haben - verbindliche Strukturen, die zu verbesserter Kooperation zwischen den Bereichen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie beitragen. Notwendig sind politische Vorgaben, die es ermöglichen, Problemfälle aus der Stadt in der Stadt zu lösen, um sog. „Verschiebebahnhöfe“ endlich zu unterbinden. Fachlich ist es ohnehin nicht mehr umstritten, das zur sozialräumlichen Hilfeplanung die konsequente, regionale, interinstitutionelle fachliche Zusammenarbeit auf Basis gegenseitiger Akzeptanz auf Augenhöhe zu erfolgen hat. Es gilt weiterhin, diesen fachlichen Stand mit politischer Unterstützung in die Praxis von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie zu überführen.
Wenn dieses fachliche Gebot nicht umgesetzt werden kann, so wird auch „ eine gemeinsame Einrichtung von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie“ (Koal.Vertr.) lediglich wieder einmal genau die Probleme schaffen, die sie lösen wollen. Für die Hilfen einiger besonders schwieriger Fälle, sogenannter Systemsprenger, kann nur ein vernetztes, gut entwickeltes Helfersystem in Hamburg selbst beitragen.
Jugendliche machen Probleme, weil sie Probleme haben. Sie zu beheben ist Aufgabe der Helfer. Ziele sind die Normalisierung des Lebensfeldes, sind biographisches Verstehen, sind tragfähige, dauerhafte Begleiter, die in die Hilfeplanung einbezogen werden. So können Zwangsunterbringungen und geschlossene Maßnahmen verhindert oder verkürzt werden, insbesondere, wenn die Handelnden politisch unterstützt werden.
Hamburg, 08.09.2020, Charlotte Köttgen"
Eine Jugendliche liest am 5. Febr. 2020 den offenen Brief der jungen Menschen vor, der im Rahmen des Projekts des KJRV Dresden entstanden ist:
Ort war die Fachtagung „Erziehung in Würde und Freiheit? Geschlossene Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen nach § 1631 b BGB in der Jugendhilfe“ am 05.02.2020 in Dresden. Projektseite AM-Projekt: https://freiheitsentzug.info/projekt/ Es gibt ein Netzwerk Ombudschaft mit weiteren Infos zu dem Projekt & einer Broschüre: https://ombudschaft-jugendhilfe.de/2020/02/broschuere_gu/
Der Offene Brief: Hallo Fachkräfte…wir müssen reden!
Uns* wurde in der Jugendhilfe und der Psychiatrie die Freiheit genommen. Wir haben das in verschiedenen Arten und Formen erlebt. Manches hat manchen von uns geholfen, aber vieles sehen wir sehr kritisch. Wir haben erlebt, …
Wir haben das oft nicht als Hilfe erlebt, es war mehr eine Strafe. Wir glauben, das geht auch anders! Wir erwarten von euch Fachkräften, dass ihr eure Praxis überdenkt. Freiheitsentziehung darf keine Strafe sein, sondern darf nur ausnahmsweise genutzt werden, um uns zu helfen! Deshalb erwarten wir von euch Fachkräften…
Macht euch Gedanken, ob das, was ihr tut, uns wirklich hilft. Wir erwarten von euch allen, dass ihr menschlich mit uns umgeht. Wir sind bereit, mit euch über unsere Erfahrungen zu sprechen.
Hamburg, April 2019
* 15 Jugendliche aus dem ganzen Bundegebiet haben sich zu 3 Workshops im Frühjahr 2019 in Berlin, Hamburg und Dresden getroffen. – www.jugendhilferechtsverein.de
Die letzte größere gegen die Geschlossene Unterbringung organisierte, und bundesweit ausstrahlende, Konferenz fand als Tribunal “Dressur zur Mündigkeit? – Über die Verletzung von Kinderrechten in der Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland” – am 30. Oktober 2018 von 14-21 Uhr im Wichernsaal des “Rauhen Hauses” an der Evangelischen Hochschule in Hamburg statt. Das Tribunal ist in einer Buchveröffentlichung ausführlich dokumentiert, die Anfang 2020 im Verlag Beltz Juventa erschienen ist:
Die Verletzung von Kinderrechten in der Heimerziehung wird gemeinhin als überwunden angesehen. Das in diesem Band dokumentierte Tribunal über die Verletzung von Kinderrechten, das im Herbst 2018
in Hamburg stattfand, zeigte jedoch das Gegenteil: Auch gegenwärtig werden systematisch Disziplinierungs- und Degradierungstechniken in Einrichtungen der Jugendhilfe angewandt.
Dieser Band dokumentiert die Aussagen von Betroffenen und Sachverständigen, analysiert Hintergründe und Dimensionen dieser Situation und diskutiert Schritte zu ihrer Überwindung.