Aus drei.ver.de Nr. 71 : "Seit 100 Jahren gibt es in Deutschland Tarifverträge und eine gesetzlich verbriefte Mitbestimmung. Aus diesem Anlass hat sich Mario Gembus, bei ver.di für kirchliche Betriebe zuständig, mit der Sonderstellung beschäftigt, die die christlichen Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände in beiden Fragen für sich reklamieren. Die erste »Streitschrift« zeigt auf, dass die kircheninterne Mitbestimmung nicht an die im Betriebsverfassungsgesetz festgelegten Standards heranreicht. In der zweiten argumentiert Gembus, dass Tarifverhandlungen auch in Kirchen, Diakonie und Caritas zur Normalität werden sollten. Denn auch hier gebe es den Interessengegensatz und eine strukturelle Machtasymmetrie zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten. Dass die kircheninterne Festsetzung der Löhne und Arbeitsbedingungen dem nicht gerecht wird, belegt der Gewerkschafter eingehend.
Intensiv befasst er sich dabei mit den Begrifflichkeiten, die im kirchlichen Arbeitsrecht verwendet werden und dessen Legitimation sichern sollen. So zum Beispiel mit der »Dienstgemeinschaft«, die Interessengegensätze kaschieren soll und sich auch gegen die angeblich betriebsfremde Gewerkschaft richtet. Vom »Konsensprinzip«, das die Kirchenoberen in Sachen Arbeitsrecht stets vor sich hertragen, bleibt nach der kritischen Lektüre ebenfalls nicht viel übrig. Denn Gembus legt anschaulich dar, was im kircheninternen Schlichtungsverfahren vom vermeintlichen Konsens am Ende bleibt: Zwang"
Zur Würdigung von 100 Jahren Mitbestimmung und Tarifverträgen in Deutschland veröffentlicht der ver.di-Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen in diesem Jahr eine Reihe von Streitschriften. Sie verknüpfen die historischen Erfahrungen mit aktuellen Herausforderungen – auch und gerade in Bezug auf kirchliche Betriebe. Die erste Streitschrift befasst sich mit der gesetzlichen und gewerkschaftlichen Mitbestimmung in Deutschland (duale Interessenvertretung). Die anderswo geltenden Standards werden von den Kirchen hierzulande nicht eingehalten. Sie haben ein eigenes, strukturell schwächeres Mitbestimmungsrecht etabliert. Wir argumentieren in dieser Streitschrift, warum die Umsetzung weltlicher Mitbestimmungsrechte als Mindeststandard auch in den Kirchen überfällig ist.
Tarifverträge sind auch in kirchlichen Betrieben ein normales Mittel, um Lohn- und Arbeitsbedingungen zu regeln. Im Fokus dieser Streitschrift steht die Rolle der Beschäftigten als Entscheider*innen. Sie können ihre Arbeitsbedingungen maßgeblich mitbestimmen – wenn sie sich zusammenschließen, sich gewerkschaftlich organisieren.
Einem kritischen Blick wird die nunmehr 70 Jahre durch die Kirchen etablierte arbeitsrechtliche Nebenrechtsordnung unterzogen inkl. ihrer Darstellung in einer Chronik. Der kirchliche Sonderweg ist nicht in der Lage, kollektiv wirksame Regelungen hervorzubringen und spricht Beschäftigten sogar Grundrechte ab. Anhand ausgewählter Begriffe zeigen wir zudem auf, wie verklärend und irreführend die diesbezüglichen Kirchengesetze sind.
Aus einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur kirchlichen Einstellungspraxis im Frühjahr 2018 geht hervor: Kirchliche Arbeitgeber dürfen von Bewerber/innen nur dann die Zugehörigkeit zu der entsprechenden Religionsgemeinschaft verlangen, wenn die auszuübende Tätigkeit direkt mit dem Glauben und dessen Verkündigung zu tun hat. „Bei verkündungsfernen Tätigkeiten gilt: Kirchliche Arbeitgeber dürfen bei Einstellungen ausschließlich die Qualifikation und Eignung berücksichtigen. Das ist jetzt auch gerichtlich überprüfbar", sagte Sylvia Bühler vom ver.di Bundesvorstand.
Podiumsdiskussion am 17.11.2015:
Sind die kirchlichen Sonderrechte im Arbeitsrecht noch zeitgemäß ?
Zu dieser Frage organisierte verdi und das Bremer Bündnis Soziale Arbeit, eine moderierte Podiumsdiskussion mit Vertretern der bremischen evang. Kirche und Diakonie, Gewerkschaften und einem Fachanwalt für Arbeitsrecht, im DGB-Haus in Bremen.
Verdi Sekretär Jörn Bracker begrüßte die ca. 50 Engagierten, viele Beschäftigte und Mitarbeitervertretungen aus diakonischen Einrichtungen. Sie verfolgten interessiert die von Marie Seedorf (von unserem Bündnis) moderierte Diskussion über die fortexistierenden Sonderrechte der Kirchen im Arbeitsrecht, über Streikrecht, das Betriebsverfassungsgesetz und unterschiedliche Entlohnungsstrukturen.
An vielen Punkten konnten erfreulich viele Gemeinsamkeiten im gemeinsamen Bestreben für gute Arbeitsbedingungen in der Sozialen Arbeit und in der Pflege herausgearbeitet werden.
Der Geschäftsführer der Diakonie Manfred Meyer betonte die seiner Ansicht nach oftmals bessere Bezahlung (AVR), besonders in den kirchlichen Altenpflegeeinrichtungen, gegenüber anderen Wohlfahrtsverbänden und den frei-gewerblichen Marktkonkurrenten, nachdem diese seit der "Marktöffnung" in den 1990er Jahren mit niedrigeren Löhnen in den Markt drängten. Dem wolle man nun mit dem mit verdi ausgehandelten (hoffentlich bald allgemeinverbindlich erklärten) Tarifvertrag Pflege (bzw. aktuell Pflege-Ausbildung) in Bremen entgegentreten.
Dr. Johann Daniel Noltenius (Chef der Bremer Kirchenkanzlei) meinte, dass alle in den kirchlichen Einrichtungen Beschäftigten das Recht haben sollten, zu den Mitarbeitervertretungen zu kandidieren. Den Einrichtungen sollte es freigestellt werden, das selbst zu gestalten, obwohl es in der EKD noch längerer Überzeugungsarbeit bedürfe, bis auf Bundesebene das Mitarbeitervertretungsgesetz entsprechend geändert werden könne. Kirchliche Einrichtungen, die aus der Diakonie und deren AVR (Arbeitsvertragsrichtlinien) ausscherten, und dann niedrigere Löhne zahlten, sollten - so Noltenius - es mit gewerkschaftlichen Streikmaßnahmen zu tun bekommen.
Berno Schuckart-Witsch (ver.di-Bundesverwaltung, Bereich Kirchen) und RA Baumann-Czichon Bernhard betonten, dass das Streikrecht im Grundsatz vom BAG (Bundesarbeitsgericht) ohnehin nicht eingeschränkt wurde. Wenn notwendig und möglich würde ver.di auch zu diesem letzten Mittel greifen. Schuckart-Witsch bemängelte zudem die fehlende Transparenz der realen Entlohnungsstrukturen im Diakonischen Bereich, die bei genauerer Prüfung leider immer noch flächendeckend von Entlohnung unterhalb von TVÖD, TVL (den Leittarifen im öffentlichen Dienst) geprägt sind.
Seit der Gesetzgeber entschieden hätte, dass die ausgehandelten Tarife in der Pflege auch zwingend refinanziert werden müssten, ärgere ihn das immer wieder vorgetragene Argument mit der schwierigen Refinanzierung. Kirchliche Einrichtungen sollten in den Verhandlungen [mit Kommunen und Versicherungen] selbstbewußter auf die Tariftreue pochen.
Berno Schuckart-Witsch antwortete auf die Einladung der Kirche, an den sog. „arbeitsrechtlichen Kommissionen“ teilzunehmen: "Das ist ja so, als würde anläßlich eines Fußballspiels, die gastgebende Mannschaft bestimmen wollen, wie die gegnerische Mannschaftsaufstellung auszusehen habe [die Zusammensetzung der Arbeitnehmervertreterseite werden von der Kirche mitvorgegeben]. Dem würde keine Gewerkschaft der Welt zustimmen."
Christian Gloede (GEW Landesvorstand Bremen) ging auf den Verlauf des SuE-Tarifkampfes ein: "Hätten sich die Kollegen*innen der kirchlichen Kitas und Sozialeinrichtungen (z.B. in Bremen) im Sommer 2015 solidarisch am Arbeitskampf/den Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst beteiligen können, hätten wir ein viel besseres Ergebnis gemeinsam erzielen können. Schließlich übernähmen die Beschäftigten [in Bremen] in den kirchlichen Kitas nachfolgend das Ergebnis der Tarifauseinandersetzung, ohne selbst etwas dazu beitragen zu können."
Rechtsanwalt Baumann-Czichon, der den Abend mit einem kurzen Eingangsstatement eröffnete, wies auf die eklatante Beliebigkeit hin, mit der einige kirchliche Betriebe ausgelagert und verweltlicht würden, dort wo es aus betriebswirtschaftlichen Gründen opportun sei. Gleichzeitig werde an anderer Stelle, wie bei der ACK-Regelung, darauf gepocht, formale kirchliche Loyalitäten von allen Mitarbeitern einzufordern. Dass passe nicht zusammen und widerspräche dem selbst postulierten Anspruch. (Stellungnahme von RA Baumann-Czichon zum Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 15.10.2018 in der Zeitschrift Arbeisrecht und Kirche)
Diskussionsteilnehmer*innen aus dem Publikum fragten nach und kritisierten
Gefordert wurde
"Ziel [...] ist es, die arbeitsrechtliche Situation kirchlicher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, insbesondere in nicht verkündungsnahen Bereichen, an die außerhalb der kirchlichen Einflusssphäre geltenden arbeitsrechtlichen Bedingungen anzugleichen." (Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen 2015 in Bremen, S. 19., Umsetzung Fehlanzeige ?!)
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Der aktuelle Konfrontationskurs 2016/17 der Diakonie hat auf der Bundesebene eine neue Qualität erreicht. Massive Kürzungswünsche werden von den Arbeitgebervertretern (VdDD. Verband diakonischer Dienstgeber Deutschlands) in die Arbeitsrechtliche Kommission (ARK DD) getragen.
Neben pauschalen Gehaltskürzungen in der Altenhilfe stehen Absenkungen für Beschäftigte in der beruflichen Bildung, deutliche Verschlechterungen bei der betrieblichen Zusatzversorgung und die Streichung des Kinderzuschlags im Forderungskatalog. Die Arbeitnehmervertreter fühlen sich an die Wand gedrückt. Auf Augenhöhe wurde im »Dritten Weg« noch nie verhandelt. Die Gewerkschaft ver.di hat die Beschlüsse der ARK-DD seit 2011 analysiert und in einem neuen Infoblatt veröffentlicht.
Das Ergebnis ist leider ernüchternd. Wir brauchen fächendeckende Tarifverträge. Das von der Diakonie Deutschland aus profitgetriebenen Gründen favorisierte "kollektive Betteln" des sog. "3. Weges" muss ein Ende haben. Das Infoblatt „Gerecht geht anders – Diakonie im Rückwärtsgang“ finden Sie >> hier
Soziale Berufe sind deutlich unterbezahlt. Das hat einen Hintergrund. Denn Beschäftigte von kirchlichen Einrichtungen haben kein Streikrecht. Da aber vor allem Kirchen im
sozialen Bereich die "großen" Träger, also Arbeitgeber, sind, ist eine Schieflage entstanden. Wie sollen diese Berufsgruppen wie z.B. ErzieherInnen, AltenpflegerInnen und
Krankenschwestern, ihre Rechte durchsetzen, wenn sie nicht streiken dürfen ? Deshalb die Petition mitzeichnen.
Die Streiks bei der Bahn, der Post und dann bei den KiTas, Sozial- und Erziehungsdiensten haben bei vielen Kunden/Nutzern*innen und den Arbeitgeberverbänden großen Unmut hervorgerufen, was im Spätsommer 2015 von der CSU sogar zum Anlass genommen wurde, über eine (chancenlose) Gesetzesinitiative zur Einschränkung des Streikrechts in der öffentlichen Daseinsvorsorge Propaganda zu machen.
DIE LINKE hat das kritisiert und in Hamburg zur Debatte gestellt. Ein engagierter Gewerkschafter und SPD-Mann (Wolfgang Rose) in der Hamburger Bürgerschaft hat eine sehr gute Stellungnahme über die Wichtigkeit des Streikrechts verfasst (download).
„Bei der Verteidigung des Sozialstaats sind die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände wichtige Bündnispartner der Gewerkschaften. Warum nur fürchten sie dann in ihren eigenen Betrieben und Einrichtungen die Gewerkschaft ... so sehr ...? Kirchen müssen ihre originär kirchlichen Angelegenheiten selbst regeln können, ohne Einmischung des Staates – das steht außer Zweifel. Aber sind die Arbeitsbedingungen von über einer Million Beschäftigten wirklich eine eigene Sache der Kirche? Ich meine, nein. Es sind die Angelegenheiten der Betroffenen. Schon lange sind es nicht mehr Ordensschwestern, die in den konfessionellen Einrichtungen arbeiten, sondern gut qualifizierte und professionelle Erzieher(innen), Sozialarbeiter(innen) und Krankenpfleger(innen). Viele von ihnen können sich ihren Betrieb nicht aussuchen, denn nach dem Staat sind die Kirchen der größte Arbeitgeber der Branche.
Was ist so schlimm an echter Mitbestimmung, an demokratischen Strukturen in kirchlichen Betrieben? Warum will man nicht, dass die Beschäftigten emanzipiert mit der zuständigen Gewerkschaft und auf Augenhöhe mit ihrem Arbeitgeber Tarifverträge aushandeln können, wie es in jedem anderen Betrieb des Landes möglich ist? Klar, dass dazu auch das Streikrecht gehören muss. Alles andere wäre kollektives Betteln. Doch Arbeitskämpfe sind in Tarifverhandlungen nur das letzte Mittel. Wenn es den Kirchen, wie sie regelmäßig beteuern, tatsächlich nicht darum geht, aus ihrem Sonderweg einen Wettbewerbsvorteil zu schlagen, wenn sie anständige Arbeitgeber sein und ihren Mitarbeiter(innen) gute Arbeitsbedingungen bieten wollen, dann müssten sie den Arbeitskampf nicht fürchten....
In der Sozial- und Gesundheitswirtschaft gibt es mittlerweile eine „Schmutzkonkurrenz“. Billiganbieter bestimmen immer öfter die Höhe der Refinanzierung. Deshalb stehen auch die Einrichtungen der Caritas [und Diakonie] unter Druck, was Einkommen und Arbeitsbedingungen betrifft. Unsere Lösung: ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag. Zu dessen Einhaltung wären auch jene Unternehmen verpflichtet, die sich heute mit Lohndumping und schlechten Arbeitsbedingungen einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. ...
Zum Jahreswechsel mussten sich die Caritas-Einrichtungen laut Beschluss der Deutschen Bischofskonferenz entscheiden: Entweder sie übernehmen die kirchliche Grundordnung mit dem Dritten Weg kircheninterner Lohnfindung in ihre Statuten oder sie verlassen diesen Sonderweg. Ich wünsche mir, dass viele Verantwortliche die Chance erkennen und sich für echte Mitbestimmung und mehr Demokratie entscheiden. ... Vielerorts setzen sich Kirche und Caritas für die Einhaltung der Grund- und Menschenrechte ein. Das ist gut. Diese müssen aber auch für die Beschäftigten der eigenen Einrichtungen gelten. Ihnen das aus der Koalitionsfreiheit abgeleitete Streikrecht zu verweigern, ist weder sozial- und rechtsethisch noch theologisch zu rechtfertigen, wie der Sozialethiker Hartmut Kreß von der Universität Bonn in einem Anfang November vorgestellten Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung bestätigt.... Die Situation im Sozial- und Gesundheitswesen hat sich dramatisch verändert, seit es die politische Entscheidung gab, auch in diesem Bereich den ökonomischen Wettbewerb zuzulassen. Zunehmend drängen private Anbieter in die Branche, die mit der Versorgung und Betreuung von Kindern und Hilfebedürftigen Geld verdienen wollen. Es braucht einen Schulterschluss zwischen allen, die diesen Weg für falsch halten.“ (Sylvia Bühler (verdi) in „Neue Caritas“, Ausgabe 01/2014)
Benachteiligte "Rotkreuzschwestern". Krankenschwestern in der Schwesternschaft des DRK fordern normale Arbeitsrechte – wie sie die männlichen Beschäftigten schon immer haben.
"Betriebsrat Werner Lifka erlebt immer wieder, dass die Rotkreuzschwestern gar nicht wissen, was sie unterschrieben haben: „Viele stellen dann fest, dass es kein Arbeitsvertrag, sondern die Mitgliedschaft in der DRK-Schwesternschaft war.“
https://www.taz.de/Benachteiligte-Rotkreuzschwestern/!5229006/