Referentin: Maren Schreier. (Titel ihres Vortrages: "Soziale Arbeit und die Faszination Sozialraum") M.A. Social Work, Diplom-Sozialarbeiterin; GWA/ Quartiersmanagement (2001-2008 HB-Tenever); seit 2004 Freiberuflerin im Wissenschaftsbereich. Lehre und Forschung u.a. am BISA+E, an der Hochschule Bremen sowie an der FHS St. Gallen (CH).
Empfohlene Lektüre: "Sozialraumorientierung Sozialer Arbeit: Folge Österreich. Wer drückt die Stopp-Taste?" Maren Schreier, Christian Reutlinger (Standort Graz)
"Vieles wurde bereits geschrieben zu Sozialraumorientierung Sozialer Arbeit. Was bleibt zu dieser ‚Erfolgsgeschichte‘ noch zu sagen? Was tut sich auf, wenn einmal nicht „Sozialraumorientierung“ zum Kristallisationspunkt akademischer Analysen wird, sondern wenn entlang der den Sozialraumdiskurs prägenden Spannungsverhältnisse gedacht und geschrieben wird? Der Beitrag gibt ‚filmisch‘ inszenierte Reflexionsanstöße – zum ‚Anders- Denken‘ und weiter Diskutieren." link
Referent: Prof. Hubert Höllmüller,FH Kärnten (Österreich) Titel seines Vortrages: "Sozialraumorientierung konkret - das Grazer Modell von unten betrachtet". Über die Entwicklungen, Erfahrungen und Konflikte der 'sozialraumorientierten' Umstrukturierung des Grazer Jugendamts. Dort wird in Fachkreisen seit ca. 2 Jahren eine Kontroverse um das 'Für-und-Wider' von Sozialraumorientierung geführt , die sich gut in der online-Fachzeitschrift soziales-kapital.at verfolgen lässt.
Empfohlene Lektüre: In Graz wurde analog zu vielen Regionen in Deutschland Top-Down die SRO (Sozialraumorientierung) durchgesetzt. Höllmüller hat an wichtigen Stellen Kritik an der Grazer Entwicklung aufgezeigt.
Wie die Wirklichkeit einer TOP-Down SRO-Umsetzung in Graz aussieht - läßt sich hier nachlesen.
Ca. 60 Interessierte waren am 09.12.2014 zusammengekommen: Professoren, Studierende der Sozialen Arbeit aus Bremen, Oldenburg, Berlin, Hamburg, Hannover und Duisburg; Praktiker aus dem Jugendamt und freien Trägern in Bremen, Hamburg und Aurich; engagierte Kollegen aus Personal-/Betriebsräten und Gewerkschaften (verdi, GEW, DBSH) hatten sich eingefunden.
Ein witziges/hautnahes Improtheater von Kollegen des Bremer Jugendamtes führte uns ein. Zwei packende Vorträge von Maren Schreier und Prof. Hubert Höllmüller, der mit dem Nachtzug aus Graz
angereist war, legten in aller Dringlichkeit dar, wie wichtig eine (bisher verhinderte) unvoreingenommene Debatte über das angeblich unhinterfragbare Konzept der Sozialraumorientierung und
besonders die budgetgetriebene Weise seiner Implementierung in verschiedenen Städten wie Graz, Hamburg, Berlin und gerade jetzt auch Bremen ist.
Folgenreich für die Adressaten, die Betroffenen, die Träger und die dort tätigen Fachkräfte, gerade in Bremen, wo besonders die Kinder- und Jugendhilfe seit den 1990er Jahren ständigen neoliberal
geprägten Um- und Neuorganisationen ausgeliefert war.
Exkurs neoliberale Neuorganisationen in Bremen 1995-2007: Zur Weiterentwicklung der NOSD (Neuordnung der Sozialen Dienste) und der nachfolgenden Zusammenfassung des Jugend- und Sozialamtes im Amt für Soziale Dienste (AfSD, sozialräumlich gegliedert in Sozialzentren) wurden auf der Grundlage des sog. "Ploenzke-Gutachtens" weitere Verwaltungsmaßnahmen umgesetzt. Um die sozialen Dienstleistungen in "Produkten" für den auf "Produktgruppen" umgestellten Haushalt zu erfassen und zu beschreiben, wurde das sog. "Tormin-Gutachten" vergeben, um nachfolgend ein Controllingsystem in den Aufgabenbereichen Erziehungshilfe und Hilfen für behinderte und psychisch kranke Menschen zur Jahrtausendwende zu installieren. Die Vorschläge des sog. "Wibera-Gutachtens" führten zur Einführung von mehr "Wettbewerb mit betriebswirtschaftlichen Instrumenten". Unter der Überschrift „Neuordnung der Wahrnehmung der öffentlichen Aufgaben“ leitete der Senat am 5.10.1999 einen Umbau der öffentlichen Verwaltung ein und schaltete dabei die "Unternehmensberatung von Roland Berger" ein. (Siehe dazu ausführlich ganz unten "Arnold Knigge, Die Sozialpolitik der Großen Koalition in Bremen, ZeS-Arbeitspapier Nr. 13/2007, Zentrum für Sozialpolitik Universität Bremen, als Download).
Zum neuen Leiter des AfSD (Amt für Soziale Dienste) wurde zum 1.2.1999 Dr. Jürgen Hartwig ernannt. Bis 2006 litt nun die Fachlichkeit im Jugendamt massiv, gesteuert von diesem von der großen Koalition (SPD/CDU) eingesetzten Amtsleiter Hartwig. Beinharte Personalkürzungen und budgetgetriebene Kürzungsvorgaben verwandelten die "Casemanager" im Jugendamt zu Budgetverwalter*innen, unter Missachtung des KJHG, laut dem Sozialarbeitern*innen Anwälte des Kindeswohls und Förderer der Erziehung in den Familien durch Unterstützung der Eltern sind. Das fand im Herbst 2006 mit dem tragischen Tod des 4-jährigen Jungen "Kevin" ein jähes Ende. Die Sozialsenatorin und der Amtsleiter mussten ihren Hut nehmen.
Danach stiegen die HzE Fallzahlen (Familien, die "Hilfen zur Erziehung" bekommen) und deren Kosten wieder an. - Die Reaktion des Anfang 2011 noch SPD-geführten Sozialressorts las sich dann so: „So sind nach Hamburger Erfahrungen zum Beispiel gruppenorientierte Maßnahmen im Sozialraum Betreuungen durch die aufsuchende Familienhilfe vorzuziehen, da diese sehr teuer sei und oftmals zuvor nicht ermittelt werde, ob ihre Einbeziehung notwendig sei.“... „Anknüpfungspunkt ist hier vor allem die „Eingangsdiagnostik“ der Allgemeinen Sozialen Dienste. Diese mit dem Ziel der Einfädelung in bereits vorhandene [entweder ehrenamtliche oder "Regeleinrichtungen" wie Schule und KiTa, d.V.] sozialräumliche Strukturen durchzuführen, wird als sinnvolle Vorgehensweise und als bedarfsgerechteres Modell angesehen.“ ... „...das Ziel, um zur Begrenzung des Kostenanstiegs zu gelangen, es demgegenüber sein muss, den Widerspruch zwischen sozialen und fiskalischen Zielen aufzuheben...“ *Bericht u. Dringlichkeitsantrag des nichtständigen Ausschusses „Umsetzung der Föderalismusreform II“ Drucksache 17/1663 Landtag 21.02.11 , Seite 22-27
Unter dieser Zielsetzung wurde das 3-jährige Modellprojekt ESPQ im Bremer Stadtteil Walle, wissenschaftlich begleitet von der Uni Halle, gestartet und durchgeführt. 2015 begann der "Transfer" der (erwarteten fiskalischen) Ergebnisse auf alle Bremer Sozialzentren unter Ägide der Grünen mithilfe des fortbildenden Lüttringhaus-Institutes, mit - so ist zu befürchten - bedenklichen Folgen. Eine kleine, durch Personalabwanderung wieder zunichte gemachte Personalaufstockung soll langfristig über bessere "Eingangsdiagnostik" zu HzE-Einsparungen führen. Aber schon diese verpuffte Personalaufstockung erfolgte längst nicht in dem Umfang wie im ESPQ-Modellprojekt im Stadtteil Walle, wo mit einer Verdoppelung des Personals die Beratungsintensität der Sozialarbeiter*innen selbstverständlich verbessert werden konnte.
Zu den tatsächlichen (jetzigen und langfristigen) Auswirkungen für Kinder und Familien und deren Bedarfen, nicht nur im Waller Modell-Quartier, sondern nun in allen Stadtteilen, gibt es keine Evaluation. "Fehlender Rücklauf" steht in den Zwischen- und Abschlussberichten. 2017 muss der Leiter des Jugendamtes Rolf Diener und seine "Chefin" im Sozialressort in ihrem JUWE-Jubel-Bericht über den Verlauf der Neuorganisation des Jugendamtes zugeben: "Insbesondere die fallunabhängige und präventive Kooperation mit Partnern und Gremien im Sozialraum musste aufgrund der angespannten Arbeitssituation der Mitarbeiter*innen des ASD deutlich reduziert werden." (S.3)
Wohlgemerkt: Bremen hat seit 5 Legislaturperioden keinen Jugendhilfebericht erstellen lassen, obwohl gesetzlich vorgeschrieben (§ 5 BremAGKJHG); eine transparente, alle Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe in ihrer Wechselwirkung erfassende, Jugendhilfeplanung/Bedarfsermittlung (§80 KJHG) landesweit und kleinräumig liegt nicht vor. Das ist nicht nur intransparent und undemokratisch, sondern auch eine Folge der "Fast-Abschaffung" des eigentlich dafür zuständigen Landesjugendamtes im Zuge der von der Schuldenbremse noch verschärften Personalabbauquoten (PEP-Quoten).
Der Referent auf unserer Tagung, Prof. Höllmüller berichtete, dass auch in Graz, wo mithilfe des Slogans "Sozialraumorientierung" ein Top-Down Organisationsentwicklungsprojekt seit 2004 implementiert wurde und über die Hälfte aller "Fälle" durch raffinierte Verwaltungs-Steuerung "verschwunden" sind, nicht untersucht wurde, ob wohin sich derweil die Lebensituation von Kindern und Familien entwickelt hat ? Eine, auch für Kritik offene, wissenschaftliche Evaluation wurde administrativ verhindert.
"Die Evaluation halten jedoch mehrere Fachleute, darunter Peter Pantucek von der FH St. Pölten und der deutsche Erziehungswissenschaftler Reinhart Wolff, für methodisch zweifelhaft." Und "Reinhart Wolff ortet dort, wo mit Hintes Konzept gearbeitet wird, ein Grundmuster: Oft werde nicht wissenschaftlich evaluiert und keine offene Diskussion zugelassen. Hinte selbst fordert in einem Buchbeitrag über die Sozialraumorientierung „geradezu stalinistische Konzepttreue“ ein." (Zitiert aus: http://www.falter.at/falter/2014/04/22/hilfe-dringend-gesucht/ )
Stattdesssen kaufte die Stadt Graz in einem regelmäßig erscheinenden Fachblatt (*) eine ganze selbstgestaltete (Jubel-)Sonderausgabe, um sich den Anschein von Fachlichkeit zu geben. Kritiker wie Prof. Höllmüller blieben darin unerwähnt. Das Grazer Sozialressort verteilte stattdessen in Fachkreisen gegen Prof. Höllmüller gerichtete Artikel, ohne seine Position mit zu veröffentlichen.
*: "Sozialarbeit in Österreich" 1/12, Hrsg. Oesterreichischer Berufsverband der SozialarbeiterInnen, OBDS
Der "Erfolg" wird hier in Bremen, wie offen zugegeben, an der finanziellen "Rendite" (O-Ton) gemessen (deutlich weniger Sozialpädagogische Einzelfallhilfen im Modellquartier
Walle), also erst mal monetär. Bei genauerer Betrachtung der politischen Hauptakteure und Befürworter kein Wunder. Z.B. der Jurist und ehemalige Bremer Finanzfachmann Jan Pörksen; Pörksen wurde
nach der von der SPD mit absoluter Mehrheit gewonnen Wahl 2011 in Hamburg "über Nacht" im Hamburger Ressort Soziales zum Staatsrat nominiert und war/ist einer der Protagonisten der dortigen
Implementierung und sukzessive bundesweiten Anwendung, führend beteiligt auch beim nachträglich dementierten "A-Länder"-Versuch, Ende 2011 sogar das KJHG/SGBVIII und seine HzE §§ 27 ff zu ändern,
um die "lästigen" nicht-steuerbaren Hilfen zur Erziehung "loszuwerden". (Vergl. diese Bachelorarbeit link und diesen Hamburger Blog )
Im Laufe des Fachtages am 9. Dezember konnte in vier kleineren Gruppen entlang der aufgeworfenen Themen Befürworter, Zweifler und Kritiker zu Wort kommen. In einer abschließenden
Runde konnten einige aus den AGs resultierende Ideen zusammenfassend ausgetauscht werden.
Werkzeug Nr. 1
für die Senkung der Fallzahlen ist, wie Eingangs zitiert, die "bessere" Steuerung der "Eingangsdiagnostik" durch die "Hilfen zur Erziehung" bewilligenden Verwaltungsinstanzen und das "Casemanagement". Die Top-Down-Lenkung der Hilfebewilligung durch immer kleiner werdende, ideologisch und administrativ verengte Nadelöhre, durch die die Adressaten, bzw. die von den Fachkräften vor Ort eingebrachten "Fälle", im neu-gesteuerten Jugendamt durch müssen.
Werkzeug Nr. 2
im Besonderen die konstruierte Voraussetzung eines dezidierten "Willens des Klienten" (im SGB VIII so nicht zu finden), erweist sich als Schlüsselmethode, wie wir von Prof. Höllmüller aus den Grazer Erfahrungen erfuhren. Der "Sozialraum-Papst" Prof. Hinte und seine "Follower" differenzieren einen von ihnen so definierten Wunsch als "unklare Beliebigkeit der Klienten", was Austeritätspolitiker und budgetverantwortliche Kämmerer selbstredend begierig aufgreifen, um die Hilfebedarfe, mit einem "linguistischen Trick", nicht mehr kosten- und fallrelevant werden zu lassen.
So lassen sich schnell HzE-Kosten senken, haben doch diese Adressaten dann in dieser Logik selbst Schuld, wenn sie mit ihren "beliebigen Wünschen kommen", die sie unverschämterweise auch noch angeblich ohne "eigenen Aufwand" erfüllt haben wollen ? Wir kennen diese "Aktivierungs"logik bereits aus der Einführung von Hartz IV nebst Diffamierung der Arbeitslosen als "Faule" (Schröder); auf die Spitze trieb es der fühere FDP-Chef und Außenminister Westerwelle, der in der Welt 2010 schrieb: "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein. An einem solchen Denken kann Deutschland scheitern".
In diesem Beitrag der wissenschaftlichen Begleiter*in des ESPQ-Modells (Prof. OLK und wiss. Mitarb. Frau Wiesner von der Uni Halle) heißt es im O-Ton: " [Der Wille] ist in Abgrenzung zur Kategorie „Wünsche“ zu betrachten: Während die Erfüllung von Wünschen nicht notwendig eigenen Einsatz voraussetzt, sondern durch Dritte geleistet werden kann, stellt der Wille auf Zustände ab, für deren Erreichung die Betroffenen bereit sind, ein hohes Maß an eigenem Aufwand aufzubringen."
Also Wehe den Adressaten*innen, die den Fehler machen, ihr Anliegen als (vom Jugendamt/ "Casemanager*in" definierten) "Wunsch" zu äußern, oder deren Anliegen administrativ zum "beliebigen Wunsch" umgedeutet wird, oder das "Pech" haben, von den zuständigen Casemanagern*innen in die Schublade: nicht bereit, für die "Erreichung" "ein hohes Maß an eigenem Aufwand aufzubringen" einsortiert werden. Nach Lüttringhaus gibt es einen "Leistungsbereich" (kein Kinderschutz und damit freiwillige Zusammenarbeit der Familie mit dem Jugendamt), einen "Graubereich" und einen "Gefährdungsbereich" (beides Kinderschutz und damit keine Freiwilligkeit). Unterschieden wird im Jugendamt auch zwischen "Beratungsfall" und "Kostenfall". Neu ist, dass nun im Casemanagement intensiver mit den Familien gearbeitet wird (werden soll) und dadurch Fälle zum Teil länger Beratungsfälle bleiben.
Die Adressaten (Eltern, Kinder, Jugendliche) haben innerhalb dieser Ideologie immer weniger zu melden, trotz Rechtsanspruch im KJHG, wo eine Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille nicht zu finden ist. Der ab 2015 neue Bremer Staatssekretär im Sozialressort Jan Fries gab im Jugendhilfeausschuss am 4.8.2016 unumwunden zu, dass "zentrale Zielsetzungen der Reform [SGB VIII Novellierungsvorhaben des Bundesfamilienministeriums]... bereits Bestandteile des Projekts „Weiterentwicklung des Jugendamts“ [in Bremen seien]." Wieder prescht hier die "Exekutive" vor, ohne dass die demokratisch legitimierte "Legislative" dazu Beschluss gefasst hätte. Das soll nun mit der SGB VIII Novelle nachgeholt werden ?
Vergegenwärtigen sollten wir uns auch, dass in dem seit 1990 geltenden SGB VIII die - je nach Bedarf - notwendige Hilfe zur Selbsthilfe - ohnehin in ihrem sozialräumlichen Kontext - ausdrücklich vorgesehen ist.
Wir bieten weiter unten einige links und pdfs zu öffentlich nachlesbaren Positionen zu dem Thema.
Jana Sämann, B.A. Soziale Arbeit. Studium an der Hochschule Bremen mit einer Abschlussarbeit 2013 zum Thema: "Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe. Aspekte praktischer Umsetzung und rechtlicher Machbarkeit". Auszug: "Die Finanzierungslogik der Sozialraumorientierung wird häufig dahingehend ausgelegt, dass die infrastrukturelle Verankerung von Hilfeangeboten im sozialen Raum eine höhere Effektivität besitze, da die Hilfen oft als niedrigschwellige Präventionsangebote in der Lebenswelt der Klient_innen verankert werden sollen und so wirksam werden, noch bevor ein institutionelles Eingreifen notwendig wird. Daraus resultiert die Forderung, die Hilfen sollten infrastrukturell an sozialräumlichen Bezugspunkten ausgerichtet werden und nicht durch subjektive Rechtsansprüche des Individuums (Münder 2011: 457). Die Verankerung der Jugendhilfe in der Infrastruktur hätte jedoch eine Veränderung ihres rechtlichen Charakters zur Folge: Eine so entstehende objektive Rechtsverpflichtung zeichnet sich dadurch aus, dass sie nur noch eine Aufgabenzuweisung an die Träger beinhalten würde und daher mit einem großen Ermessensspielraum verbunden wäre (Münder 2011: 457).
Anders als bei subjektiven Rechtsansprüchen sind objektive Verpflichtungen kaum einklagbar, ein Rechtsverstoß ergäbe sich erst „bei Nichttätigkeit oder minimalster Aufgabenwahrnehmung“ (ebenda). Eine infrastrukturelle Steuerung der Erziehungshilfe würde demnach eine Machtminderung für Bürger_innen bedeuten, denn wie Münder anführt, sei es in der Sozialgesetzgebung bisher nie der Fall gewesen, dass einem Abbau von Ansprüchen ein entsprechender Strukturaufbau gefolgt wäre (2011: 458f)."
Prof. Dr. Sabine Stövesand, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg schrieb 2011 über: Gemeinwesenarbeit als Instrument neoliberaler Politik? Auszug: "Was die GWA betrifft oder sagen wir eher, ihre zentralen Begrifflichkeiten (Vernetzung, Aktivierung, Empowerment, Partizipation, Sozialraumorientierung) so erleben auch sie einen Aufschwung und haben ihre Randständigkeit verloren. Man muss kaum jemanden mehr von der Bedeutung der lokalen Gemeinwesen überzeugen. Und das erscheint mir ebenso so zwiespältig und besorgniserregend wie die Entwicklung im Stadtteil [St. Pauli] selbst. - Ein Grund liegt darin, dass den benachteiligten Quartieren und ihren BewohnerInnen, in Hamburg unter dem Label der „Aktiven Stadtteilentwicklung" (früher: „soziale Stadtteilentwicklung"), immer mehr Verantwortung für die Stabilisierung und Verbesserung der lokalen Verhältnisse zugeschrieben wird, während die zur Verfügung gestellten Mittel recht bescheiden bleiben. Gerade auch wenn man das mit dem vergleicht, was in Hamburg für einzelne Leuchtturmprojekte wie die Elbphilharmonie ausgegeben wird (39 Millionen Euro für den Zeitraum von 2005 bis 2008 gegenüber 77 Millionen). Die eine oder andere Million mehr für die Stadtteilentwicklung würde aber auch nicht auffangen, was übergreifende Politiken wie die Demontage der sozialen Sicherungssysteme, die Deregulierung des Arbeitsmarktes oder die Kommodifizierung im Wohnungssektor anrichten. - Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass Formen und Funktion sozialarbeiterischer Handlungskonzepte nicht unabhängig von politisch-ökonomischen Realitäten und Rationalitäten existieren. Aktivierung, Beteiligung und Sozialraumorientierung bedeuten heute nicht dasselbe wie zu Anfang der 1970er Jahre. Schon 1980 stellten Boulet, Krauss und Oelschlägel fest: "Die angewandten Methoden ähneln sich sehr, die Stoßrichtungen im gesellschaftlich-strategischen Sinne stehen sich diametral gegenüber" (S. 23).
Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt veröffentlichte einen Beitrag in diesem Hamburger Blog: "Unter dem Stichwort „Sozialraumorientierung“ findet nun schon seit geraumer Zeit eine Auseinandersetzung über die zukünftige Gestaltung kommunaler Sozial- und Jugendhilfeleistungen statt. Dabei wird von den Einen der emanzipatorische Charakter dieses Konzept gerühmt, dass endlich dem Gerangel um Fachleistungsstunden zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern ein Ende bereitet, während andere darauf hinweisen, dass sich die Entdeckung des Sozialraums schlichtweg den kommunalen Haushalten und ihren Sparzwängen verdankt. Sozialraumorientierung wird dabei zu so etwas wie einer Allzweckwaffe der in Finanznöten befindlichen Sozialdezernenten, weil mit dem Aktivieren der sog. Regeleinrichtungen (zumeist wird dabei an Schulen und Kindertagesstätten gedacht) die Hoffnung auf die Eingrenzung der kostentreibenden Entwicklung bei Einzelfallhilfen verbunden wird."
Detlef Schade (Geschäftsführer des Berliner "Sozialraumschwerpunktträgers" FAB) beklagt in diesem Blogbeitrag den Missbrauch des seiner Ansicht nach "eigentlich ganz anders gemeinten" Hinte-Konzeptes für unfachliche und rein kostenreduzierende Zwecke seitens der Sozialbürokratie.
Schade arbeitet in diesem Beitrag des PARITÄTISCHEN Landesverbandes Berlin in sehr detaillierter (und historischer) Sichtweise die Folgen für die Adressaten, die Sozialarbeiter*innen und die diskreditierten Familienhilfen in Berlin heraus, sowie das damit verbundene Alleinlassen der Multiproblemfamilien, die es am dringendsten bräuchten.
Und er - wie könnte es anders sein - bietet das Konzept seines Trägers als die Lösung an: nämlich den von ihm ausgemachten "Missing Link" zwischen traditionellen Familienhilfen und offenen Angeboten/bzw. Regelangeboten Schule u. Kita (viele Familien nehmen Beides nicht an) zu füllen mit eng an eine Hauptschule angebundene aufsuchende familientherapeutische Arbeit mit dem Titel "Kontakt - aufsuchende Zusammenarbeit mit Eltern".
Das große Problem dabei: Das Ganze wird nicht mehr über HzE mit individuellem Rechtsanspruch und ausverhandelten Entgelten finanziert, sondern über meist zeitlch befristete Projektmittel im sog. "Zuwendungsbereich", oftmals auch als "freiwillige Leitungen" seitens der Sparkommissare der Sozialbürokratie umgedeutet und womöglich später wieder weggekürzt, wenn politisch opportun.
Eine kritische Stellungnahme vom Juli 2014 der
Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflegen Bremen e.V. zur laufenden Umsteuerung im Jugendamt, dem ESPQ Modellprojekt in Walle und zum Stand der „Weiterentwicklung der Hilfen
zur Erziehung“ findet sich unter diesem link. Ein abschließende kritische Stellungnahme der LAG ausgelegt auf
dem Fachtag des Bremer Jugendamtes im Febr. 2016 in den pdfs:
Aktuelle Zahlen 2016 zu den ambulanten, stationären Hilfen (HzE) ab 2006 in Bremen und der Personalsituation im Jugendamt hier in der Antwort des Senats vom 15.11.2016 auf die große Anfrage der Linken: Ist die Handlungsfähigkeit des Jugendamts noch gewährleistet?
"unter Einbeziehung von Vertretungsnotwendigkeiten pro anwesender Vollzeitkraft (ohne dauerhaft Kranke und Mutterschutz):
A) Familienrechtssachen: ca. 7 B) Erzieherische Hilfen: ca. 50 C) Kinderschutzfälle: ca. 4
D) Beratungsfälle: ca. 6 Hinzugezählt werden müssen die Inobhutnahmen nach § 42 SGB VIII und erforderliche Leistungen nach dem SGB XII."
Das Land Hamburg hat bei den maßgeblich von Sozial-Staatsrat Jan Pörksen (ehemals ein Bremer SPD-Finanzfachmann) vorangetriebenen sozialräumlichen Umsteuerungen im HzE-Bereich gravierende Rechtsbeugung begangen und hat deshalb vor dem Verwaltungsgericht eine krachende Niederlage erlitten. Die Taz berichtete am 13.03.2016. Die Stadt Hamburg wurde u.a. verurteilt, folgendes zu unterlassen: Die Delegierung individueller Hilfen zur Erziehung (mit Rechtsanspruch nach §27 ff SGB VIII) an regionale Trägerkonsortien in pauschalierter und budgetierter Form.
Eine "Video-Ansprache 2014/15" von Prof. Wolfgang Hinte über Sozialraumorientierung. Eine Mischung aus richtiger Kritik an bisherigen Fehlentwicklungen, die übrigens nicht aus der Intention des 1990 verabschiedeten KJHG (SGB VIII) erklärbar sind, sondern aus den inzwischen alle Lebensbereiche durchdringenden, systemimmanenten Triebkräften des herrschenden finanzialisierten kapitalistischen Systems (Hilfe-, Markt- und Strafideologie).
Hinte beteiligt sich auch am sehr verkürzten Pauschalvorwurf an die "freien Träger", angeblich nur "Geld und Fälle" haben wollen, als ob diese die aufgezwungene Marktkonkurrenz selbst für sich erfunden hätten. Was Hinte (nur kurz) andeutet, aber letztlich (naiv?) ausblendet, ist der spätestens seit der Finanzkrise 2008 besonders deutlich zu beobachtende Missbrauch seiner Ideen durch neoliberal orientierte Austeritäts"reformer" und Schuldenbremse getriebene Politik, die seine These ("Die fachlich beste Hilfe ist die kostengünstigste Hilfe") selbstredend begierig aufgreift und in Fiskalpolitik ("Rendite") umwandelt.
Prof. Mechthild Seithe (emer.) kritisiert die jahrzehntelang durch die Sozialpolitik zu verantwortende Deprofessionalisierung der Jugendamts-Arbeit und die rein fiskalisch getriebene Diskreditierung der Hilfen zur Erziehung (HzE) mithilfe der angeblich "sozialräumlichen" Umsteuerungen des Sozialressorts mithilfe des sogenannten ESPQ Modellprojektes und den ab April 2014 laufenen internen Jugendamtsfortbildungen durch das Lüttringhaus-Institut in den Bremer Sozialzentren.
( Link zu Seithe´s ausführlicher Stellungnahme) Auszug:
"...Bevor konkrete Hilfeformen als zu teuer und als deshalb möglichst zu vermeiden stigmatisiert werden, wäre es aus fachlicher und wissenschaftlicher Sicht notwendig gewesen, zunächst einmal zu fragen:
1. Was könnten und sollten sozialpädagogische Familienhilfe bzw. Erziehungsbeistandschaft leisten, was über eine (auch über eine wieder sozialpädagogisch orientierte) Beratung durch den ASD hinausgeht?
2. Bei welchen Problemlagen sind sie die notwendigen und geeigneten Hilfen?
3. Welche Bedingungen bräuchten sie, damit sie das leisten können. [...] ?
Bemerkenswert ist zum Weiteren, dass im Rahmen des Projektes an die Frage niemals gerührt wird, wie es überhaupt zu der derzeitigen Deformation von ASD-Praxis [neoliberale Umsteuerungen 1995-2006: aus Sozialarbeitern*innen wurden "Casemanager"], die sich heute meist nur noch auf Verwalten, Kontrollieren und das Outsourcing von Diagnostik und Sozialpädagogik an freigemeinnützige Träger beschränkt, kommen konnte und ebenso, was die besagten ambulanten Hilfen derartig inflationär und „zahnlos“ gemacht hat...."